Gerechtigkeit
in der Bibel
Lehrplanbezug: Menschenwürde und Güter der Schöpfung für alle; biblisches Menschenbild als Leitbild für das Zusammenleben und soziale Handeln; Gen 1,26-31
Freiheit und Bundesordnung
Der
Dekalog – Grundgesetz, Weltgesetz und „Urcharta der Menschenrechte“
Lehrplanbezug: Zusammenhang von
Befreiung aus der Knechtschaft und Verpflichtung zu entsprechendem Handeln, von
Gottesrecht und Menschenrecht
Der Dekalog (wörtlich das Zehn-Wort), also die Zehn Gebote, gelten als das „Grundgesetz“ des Volkes
Israel. Zuweilen wird dieser Dekalog gar als das „Weltgesetz“ bezeichnet.
Diesem folgen – sowohl im Buch Exodus als auch im Buch Deuteronomium –
weitere Gesetze, die die Aussagen des Dekalogs konkretisieren.
Diese Gesetzessammlung wird das Bundesbuch (Exodus, Kapitel 21 bis 23) oder das
Deuteronomische Gesetz (Deuteronomium[1])
genannt. Nur der Dekalog ist von Gott direkt an die Menschen gerichtet worden.
Die besondere Stellung des Dekalogs als „Grundgesetz“ hängt auch damit
zusammen, dass die Zehn Gebote im Unterschied zu anderen Gesetzessammlungen nicht
mit Strafen für Einzelfälle[2]
verbunden werden, sondern grundsätzliche Aussagen zum Verhalten des Menschen
nennen. Viele Gebote des Dekalogs, die übrigens durchaus auch in anderen
Kulturen zu finden sind, wirken sich bis heute aus (z. B. auch auf das
Grundgesetz Deutschlands).
In der Einleitung zu den Zehn Geboten wird an die wohl zentralste Erfahrung in der
Geschichte Israels erinnert, nämlich an die Befreiung aus der ägyptischen
Sklaverei. „Ich bin JHWH[3],
dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der
Sklaverei (Ex 20,2; Dtn 5,6). Bevor also von den Menschen sittliche
Grundforderungen – die im Dekalog entfaltet wird – verlangt wird, wird an
die große Befreiungstag Gottes erinnert. In diesem Sinne spricht man von der „Priorität
der Heilszusage und Heilserfahrung (Anm. nämlich der Befreiung aus Ägypten)
vor dem Gesetz“. Die
Einhaltung des Gesetzes ist dann gewissermaßen die Antwort des Volkes, um der
Aufgabe, die gewonnene Freiheit zu bewahren und zu gestalten, gerecht werden zu
können. Aus der Befreiungserfahrung des Volkes Israel erwachsen also quasi die
sittlichen Verpflichtungen der Menschen untereinander und gegenüber Gott.
Hierzu zählt zunächst das so genannte „Fremdgötterverbot“: „Du sollst
keine anderen Götter neben mir haben.“ Neben den Geboten, die das Verhältnis
Gottes zu den Menschen (dazu gehört auch das Verbot der Bilderverehrung und das
Namensmissbrauchverbot („Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen“)
regeln, sind im Dekalog auch mehrere „soziale Gebote“ festgelegt.
Sabbatruhe, Verhältnis der Generationen, Schutz des Lebens, Wahrheit
und Lüge, Eigentum
So wird etwa im so genannten „Sabbatgebot“
(in der Fassung Exodus als 4. Gebot, in der deuteronomistischen Fassung als 3.
Gebot[4])
festgelegt, dass am Sabbat, dem siebten Tag der Woche, nicht gearbeitet werden
soll. Dieses Gebot wird eigens auch für Sohn und Tochter, Sklave und Sklavin
und sogar für das Vieh ausgesprochen. Alle sollen an diesem Tag ruhen.[5]
Das Gebot ist vielleicht so etwas wie das älteste Arbeitszeitgesetz. Der
Sabbat ist somit durchaus eine soziale Errungenschaft, die – in Erinnerung an
das Schöpfungswerk Gottes bzw. an die Befreiung aus Ägypten - die Arbeit des
Menschen unterbrechen soll und dem Menschen Ruhe und Erholung verschaffen soll.
Der christliche Sonntag wird zwar auch durch die Arbeitsunterbrechung und
Erholung für den Menschen und die Verpflichtung zum Gottesdienst geprägt, gilt
allerdings nicht als siebter Tag der Woche, sondern in Erinnerung an die
Auferstehung Jesu als erster Tag der Woche. Übringes gibt es – in Anlehnung
an den Wochenrhythmus – auch ein Sabbatjahr
in der Landwirtschaft. Jedes Feld soll demnach alle sieben Jahre brach gelegt
werden, d. h. nicht landwirtschaftlich bearbeitet werden. Was dennoch an Früchten
auf dem Feld wächst, soll für die Armen bestimmt sein (vgl. Ex 23, 10f). Auch
für Sklaven ist das siebte Jahr von besonderer Bedeutung. Wenngleich es auch in
Israel – wie im ganzen Orient – Sklaven gegeben haben, galt für die jüdischen
Sklaven, die zumeist „Schuldsklaven“[6]
waren, dass sie nach sechs Jahren der Sklaverei im siebten Jahr freigelassen
werden mussten (vgl. Ex 21, 2 bzw. Dtn 15, 12-13).
Schließlich kennt Israel noch das so genannte Erlassjahr.
Dieses besagt, wiederum in Anlehnung an die Zahl sieben, dass nach sieben mal
sieben Jahren, also 49 Jahren, das fünfzigste Jahr ein Erlassjahr ist, in dem
am „Versöhnungstag“ eine Wiederherstellung der ursprünglichen Besitzverhältnisse
erfolgt. Das bedeutet, dass gekaufter oder verpfändeter Landbesitz in diesem
Jahr wieder an seine ursprünglichen Besitzer zurück geht. Dasselbe gilt in
diesen festgesetzten Erlassjahren für Sklaven, die sich an andere Israeliten
verkauft haben. Sie dürfen wieder zu ihrer Sippe zurückkehren (vgl. Lev 25,
8-17).
Das fünfte Gebot (nach Zählung der Exodusfassung) bzw. 4. Gebot (nach
„klassischer“ Zählung, die sich nach der Fassung im Buch Deuteronomium
richtet), regelt das Verhältnis der Generationen: „Ehre deinen Vater rund
deine Mutter“. Dieses Gebot gilt als „Generationenvertrag“, als
Verpflichtung zur Solidarität zwischen den Generationen[7].
In der
Umwelt des alten Israel gab es bei manchen Nomadenstämmen den Brauch, dass alte
und bewegungsunfähig gewordene Greise einfach am Wegrand zurückgelassen wurden
und damit dem Tod preisgegeben waren. Die Furcht vor dem Alter war daher ein ständiger
Wegbegleiter solcher Nomadenstämme. Und solche Angst schränkt die menschliche
Freiheit in gravierendem Ausmaß ein. Hier schafft das vierte Gebot eine völlig
neue Ausgangsposition. Es befiehlt den Familien, ihre gebrechlichen Alten
mitzunehmen, auch wenn dies manchmal beschwerlich und belastend sein konnte. Die
Alten sollten keine Angst haben müssen. Das Wort "ehren" heißt damit
nicht einfach nur Ehrfurcht erweisen, sondern "für den Lebensunterhalt
sorgen". Nun wird auch der Zusatz "damit du lange lebst und es dir
wohl ergehe ..." verständlich.
Der alte Mensch sollte keine Angst vor jener Zeit haben müssen, in der er nicht
mehr für sich selbst sorgen kann, weil seine Kinder für ihn einstehen.
Auch
in der Gegenwart ist dieses Gebot von höchster Aktualität. Zwar braucht heute
in unserem Sozialsystem niemand Angst haben, verhungern zu müssen, doch mangelt
es den Alten in unseren Seniorenwohnheimen sehr oft an sozialen Kontakten. Sie fühlen
sich abgeschoben, nicht mehr gebraucht, als "Last". Dies manifestiert
sich oft auch in einem rapiden körperlichen Verfall. Hier könnte das vierte
Gebot lebensspendende Impulse liefern.
Die (erwachsenen) Kinder sollen
also die im Alter gebrechlichen Eltern weiter versorgen. Eine Auslegung des
Gebots als eine moralische Gehorsamverpflichtung der Kinder gegenüber den
Eltern würde zu kurz greifen. Der Respekt vor den Eltern zeigt sich in der Fürsorge
für sie im Alter. Somit hat auch dieses Gebot eine soziale Dimension, wie
eigentlich alle Gebote der so genannten zweiten Gesetzestafel (auf der ersten
Tafel sind die Gebote festgehalten, die das Verhältnis des Volkes Israel zu
seinem Gott Jahwe regeln). Das Tötungsverbot ist ebenfalls ursprünglich als
soziales Gebot zu verstehen. Das Verbot zielt darauf ab, die eigene Freiheit zu
bewahren, indem die Freiheit des anderen geschützt wird. Historisch gesehen
verbietet das Gebot weder die Todesstrafe, noch das Töten im Krieg. Vielmehr
ist das unrechte Töten, vor allem dann, wenn es heimlich und nicht nachweisbar
geschieht, gemeint. Das
Wort "morden" gibt eigentlich nur recht unvollständig wieder, was
damit im Urtext gemeint war. Selbstverständlich ist jede Sorge um das Leben
existenzbedrohend und Freiheit einschränkend. Das hebräische Wort, das bei
diesem Gebot im Urtext steht, meinte aber die Tötung von absolut schutzlosem
Leben, eine Tötung, die durch keine staatliche oder religiöse Instanz geahndet
werden konnte - also den absolut geheimen Mord. Gott macht sich zum Schutzherrn
jeglichen Lebens und entzieht die Verfügbarkeit darüber den Menschen. Dort, wo
dieses Leben außerhalb einer jeden menschlichen Schutzeinrichtung steht, selbst
dort breitet Gott seine Hand über uns Menschen aus.
Dieses
Gebot wirft daher nicht nur ein Licht auf kritische ethische Bereiche wie Krieg
u.ä., sondern auch auf Fragen wie Abtreibung, Euthanasie u.ä. und ist aktuell
wie eh und je.
Das 6. Gebot (Ehebruchsverbot) „Du sollst nicht ehebrechen“ ist eigentlich ein
Schutzgebot für Frauen. Ein äußerst wichtiger menschlicher Lebensbereich ist
die Familie. Sowohl für die Sozialisierung der nachkommenden Generation als
auch für die Reifung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit stellt die
Familie einen unersetzlichen Rahmen dar. Das 6. Gebot (nach deuteronomistischer
Zählung) stellt nun die Familie unter den besonderen Schutz Gottes. Niemand
sollte sich sorgen müssen, dass er plötzlich vor dem Nichts steht, wenn er älter
und körperlich weniger attraktiv geworden ist.
In der
heutigen Zeit ist die Virulenz des damit angesprochenen Problems durch unsere
modernen Gesetze erheblich gemildert. Damals aber stellte dieses Gebot vor allem
einmal die existentielle Absicherung der Frauen dar, die den Männern gegenüber
ja in vielen Bereichen benachteiligt waren.
Heute
wie damals allerdings ist dieses Gebot von erheblicher Bedeutung, wenn es nicht
nur um die äußerlichen materiellen Belange geht, sondern wenn man auch die
psychische Belastung einer auseinandergehenden Beziehung mit berücksichtigt.
Das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen“
Allerdings
gibt es heute auch "am anderen Ende der sozialen Bandbreite"
Verhaltensweisen und Sachverhalte, die mit dem 7. Gebot zusammenhängen. Das
Sozialsystem möchte durch eine Vielzahl von Maßnahmen verhindern, dass jemand
total durch das soziale Netz fällt. So positiv diese mehrfache Sicherung ist -
sie ist doch auch anfällig für gezielten Missbrauch. Das kommt letztlich einer
Ausbeutung des Sozialsystems gleich und gefährdet - bei entsprechend hoher
Missbrauchsfrequenz - das System selbst. Letztlich kann diese Gebot also auch
auf diesen Bereich aktualisiert werden. Das 8. Gebot „Du sollst nichts
Falsches gegen deinen Nächsten aussagen“ (oftmals mit „Du sollst nicht lügen“
übersetzt)
schützt
nicht nur den Bereich der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit, die im
zwischenmenschlichen Bereich von großer Bedeutung sind, sondern auch Leib und
Leben und Ehre. Zur Zeit des Alten Testaments konnte jemand aufgrund der übereinstimmenden
Aussage zweier Zeugen verurteilt und sogar mit dem Tode bestraft werden. Aus
heutiger Sicht würde man dies als einen Schwachpunkt im Rechtssystem
kritisieren. Und genau an diesem Punkt setzt das achte Gebot an. Es will genau
dort schützen, wo Freiheit und Leben des einzelnen infolge einer falschen
Zeugenaussage gefährdet sein könnten und er infolgedessen von Schäden bedroht
ist.
Auch für
die Gegenwart bieten dieses Gebot und der dahinterstehende Geist eine Reihe von
Impulsen. Es verweist uns nicht nur auf den breiten Bereich von Wahrheit und
Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Bereich, sondern es kommen auch größere
Systeme in den Blick. Mit den Mitteln der modernen Medienwelt reicht oft eine
einzige Berichtskampagne, um Ansehen und Würde einer Person nachhaltigst zu
beeinträchtigen. Manche sprechen im Zusammenhang damit sogar von einer
doppelten Gerichtsbarkeit (Justiz und Medien). Wo Gerichte noch lange keinen
Schuldspruch zu fällen in der Lage sind, sind Menschen schon oft nachhaltigst
ruiniert.
Das
neunte Gebot „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau“ und das zehnte
Gebot „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut“ soll vor öffentlichen
Vergehen bewahren. Schützen die Gebote vier bis acht vorwiegend zentrale
Lebensinteressen anderer, indem sie mich im Gewissen vor Gott in Pflicht nehmen,
so bilden die Gebote eins bis drei (Verhalten gegenüber Gott) und neun und zehn
einen massiven Schutzwall, um die je persönliche Freiheit zu wahren. Die
Einschränkung und der Verlust meiner persönlichen Freiheit beginnt nämlich
oft nicht erst bei konkreten Handlungen, sondern bereits zuvor in einem
unrichtigen (und teilweise unbeherrschten) Begehren. Die Gebote neun und zehn
machen nun darauf aufmerksam, dass Ehebruch und Diebstahl nicht einfach
erfolgen, sondern in einem vom Gebot als falsch qualifizierten Begehren wurzeln.
Auch hierin zeigt sich wieder die Aktualität
dieses Gebotes: Wie viele Menschen leben heute über ihre Verhältnisse und
erleben dann - infolge der Schuldenrückzahlungen - ihre Freiheit oft jahrelang
enorm eingeschränkt? Wie viele Ehen gehen auch deshalb auseinander, weil der
Wille zur Treue gegenüber dem Partner einem Konsumdenken auf dem Gebiet der
Sexualität gewichen ist.
Alle Gebote dienen also nicht nur in der Geschichte, sondern
bis auf den heutigen Tag der Aufrechterhaltung der menschlichen Freiheit
im Abwehrkampf gegen Gefährdungen von innen und außen. Wesentliche Bereiche
des Lebens werden durch die Gebote geschützt, die damit nicht nur in der
Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft einen bleibenden Platz in der
modernen Welt einnehmen werden. Somit kann durchaus behauptet werden, dass der
Dekalog auch heute noch als die „Zehn Weisungen“ durchaus aktuell ist.
Recht und Gerechtigkeit, prophetische
Sozialkritik
Lehrplanbezug:
Mi 6,1-16; Am 2,6-16
Zeitgeschichtlicher
sozialer Hintergrund[8]
Vor der Zeit des Königs Salomo, der Ende des
10. vorchristlichen Jahrhunderts König in Israel war, war jede Bevölkerungsgruppe
(Sippe, Ortschaft, Volk) für sich allein wirtschaftlich lebensfähig gewesen.
Nun änderte sich dies. Die Position des Königs wurde ausgebaut. Die Leute
hatten Steuern zu zahlen und Frondienste zu leisten. Das Königtum war auf dem
Weg, nicht mehr dem Volke zu dienen, sondern sich von ihm bedienen zu lassen.
Eine Minderheit, die ebenfalls zur Geldwirtschaft überging, profitierte von
dieser Entwicklung. Sie gelangte zu Reichtum, Besitz und Macht, allerdings auf
Kosten der Bevölkerung. So entwickelte sich ein "frühkapitalistisches
Wirtschaftssystem". Hauptsächlich im 8. Jahrhundert vor Christus war diese
Entwicklung in vollem Gange. Armut hatte es schon immer gegeben. Dies war
bislang allerdings das Schicksal einzelner gewesen. Jetzt, infolge des Übergangs
von der Natural- zur Geldwirtschaft, wurde Armut zum Los vieler, da sie sich
nicht von ihrem „Beruf“ als Bauern oder Viehzüchter trennen wollten und
konnten. Die reiche Minderheit nützte die Lage skrupellos aus, entrechtete und
enteignete die Armen, wenn sie in Notzeiten (etwa nach mehreren Missernten) ihre Schulden nicht mehr bezahlen
konnten. In größeren Siedlungen sammelte sich eine Art „Proletariat“,
angewiesen auf die Pacht kleiner Felder. Sie wurden Hörige, Abhängige, die
nicht mehr die vollen Rechte als Staatsbürger besaßen. Das Ergebnis war eine
vollständige Entmündigung, politisch, rechtlich, sozial und religiös. Das
Volk teilte sich in eine reiche, in Saus und Braus lebende Oberschicht (Großgrundbesitzer,
Großkaufleute, Patrizier, einige reich gewordene Handwerker) und eine Masse der
Bevölkerung, arm, ausgepresst durch die staatlichen Abgaben, oft fast völlig
entrechtet.
Die Propheten haben immer wieder auf diese Missstände hingewiesen, sie als
einen Abfall von Gott und seinem Weg gegeißelt, und in seinem Namen
Gerechtigkeit gefordert. Sie lehnen nicht grundsätzlich die wirtschaftliche
Entwicklung ab, da sie allgemein den Handel fördern und die Produktion
vermehren kann. Aber sie ziehen zu Felde gegen den Missbrauch, gegen
Gewinnsucht, Machtanmaßung und ausschweifendes Leben. Gemeinschaftswidriges
Verhalten wurde von den Propheten immer auch als Verletzung des von Gott
geschenkten Rechts angeprangert.
Typische Inhalte und Merkmale prophetischer Rede sind die Anklage sowie eine
Prophezeiung, oft mit einer Zeichenhandlung verbunden.
Als bedeutende sozialkritische Propheten sind insbesondere Hosea, Amos und Micha
bekannt geworden. Alle drei Propheten gehörten zu den so genannten „Kleinen
Propheten“, weil von ihnen relativ wenig überliefert ist. Ihre Schriften sind
im Zwölfprophetenbuch zu finden, das den Abschluss des Alten Testaments
liefert.
Alle lebten wohl im 8. Jahrhundert, wobei Hosea und Amos im Nordreich Israel tätig
waren, Micha im Südreich Juda. Das ehemals einige Königreich Israel wurde nach
dem Tode Salomos getrennt.
Amos war ursprünglich Viehzüchter und Maulbeerfeigenpflanzer aus Tekoa
(südlich von Bethlehem), wurde
dann zum Propheten berufen und ins Nordreich Israel geschickt. Dort hat König
Jerobeam II (786-746 v. Chr.) dem Land Ruhe, Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand beschert.
Allerdings ist die soziale Gerechtigkeit nicht mehr gegeben. So klagt dann auch
Amos die unwürdigen Zuständige im Staat, in der Verwaltung, im Gerichtswesen
und in der Wirtschaft an. Übervorteilung,
Ausbeutung, Rechtsbruch, Gewinn- und Genusssucht machen sich breit. Die Reichen
nehmen den Armen Weinberge und Land als Zins für gewährte Darlehen weg. Im Nordreich Israel
klagt Amos nun entschieden unwürdige Zustände im Staat, in der
Verwaltung, im Gerichtswesen und in der Wirtschaft an. Insbesondere prangert er
an, dass die Oberschicht die ärmere Bevölkerung zu bloßen Objekten ihres
Erwerbs-, Macht und Genusstriebs herabwürdigt und so das „Gottesrecht“ bricht. Dabei
neigt Amos durchaus zu deutlichen Worten, wenn er etwa die Frauen
der Oberschicht als „Baschankühe“ (dies waren gut genährte Kühe des
Baschan, eines Weidegebiets im nördlichen Ostjordanland) bezeichnet, die die
Schwachen unterdrücken und die Armen zermalmen (Am 4, 1). Er kritisiert, dass
Hilflosen Pachtgeld auferlegt wird und ihr Getreide mit Steuern belegt wird,
Unschuldige in Not gebracht werden, Arme rechtlos sind vor Gericht (vgl. Am 5,
7.10-15). Er wirft den Reichen Faulheit, Unmäßigkeit und Arroganz vor (Am 6,
1-7) und droht mit Verbannung und Untergang. Zudem lehnt er sich dagegen
auf, dass die Schwachen verfolgt, die Armen im Land unterdrückt werden, dass
Preistreiberei erfolgt und Gewichte gefälscht werden, dass Hilflose und Arme gekauft
werden (für ein paar Sandalen die Armen) und in Schuldsklaverei verfallen (vgl.
Am 8, 4-7). Schließlich wirft er den Reichen vor, dass sie zwar Opfer
darbringen, mit Liedern und Harfenspiel Gottesdienst feiern, aber Recht und
Gerechtigkeit missachten (vgl. Am 5, 21-27). "Ihr bringt den
Unschuldigen in Not, ihr lasst euch bestechen und weist den Armen ab vor
Gericht", so sein Vorwurf (Am 5, 12). Dabei bezeichnet er diese Vergehen
auch als "Sünde" (Am 5, 12) und macht damit klar, dass diese nicht
nur Schuld im "weltlichen" oder humanitären Sinne sind, sondern auch
Schuld im Verhältnis zu Gott. Amos wird wegen seiner drohenden
Botschaft vom Untergang Israels durch die Assyrer (die Assyrer eroberten dann
auch 722 v. Chr. das Nordreich Israel und führten die Oberschicht in die Verbannung)
und wegen seines Aufrufs zur Aufruhr (Am 7, 10) schon
bald durch den Priester Amazja des Landes verwiesen (Am 7, 10-17).
Micha wirft den Reichen im Land vor, dass sie Felder und Häuser unrechtmäßig
an sich reißen, dass sie das Recht brechen (Sie aber hassen das Gute und lieben
das Böse, Mi 3, 2a), dass Führer, Priester und Propheten bestechlich sind (Mi
3, 11), dass Gewichte und Waagen gefälscht werden und die Reichen nur Gewalttat
kennen (Mi 6, 10-12). Dabei fordert er – in Erinnerung an die Befreiungstat
Jahwes – „nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in
Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (vgl. Mi 6, 1-8). Dennoch sieht Micha
die Möglichkeit, dass Gott sich seines Volkes erbarmt und dessen Schuld tilgt
(vgl. Mi 7, 8-20). Er kündigte (Mi 3, 12) allerdings auch als erster an, dass
Jerusalem untergehen würde (so geschehen mit der Eroberung durch den Babylonier
Nebukadnezzar im Jahre 586 v. Chr.). Von Micha stammt übrigens auch das
berühmte Wort von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden
(vgl. Mi 4, 3b).
Insgesamt
zeigt die prophetische Kritik an sozialen Missständen, dass recht verstandener
Gottesdienst immer auch Menschendienst ist und Unterdrückung und Ausbeutung der
Menschen durch die Menschen untersagt und ausschließt. Soziale Gerechtigkeit
war schon zu Zeiten des Alten Testaments eine Grundforderung, die – wie
gesehen – allerdings immer wieder auch gebrochen wurde. Weil Gerechtigkeit und
Schutz der Armen eben auch eine Forderung Gottes ist, kann das Fehlverhalten der
Mächtigen, der Reichen, der Führer, der habgierigen Propheten usw. durchaus
als "zum Himmel schreiende Sünde" bezeichnet werden.
Anklage gegen Ausbeutung der Armen erheben allerdings auch Jesaja (vgl.
Jes 1, 21-25; 3, 13-15 u. a.) oder Jeremia (vgl. Jer 7; Jer 22,
13-19), die beide im Südreich Juda wirkten. Jesaja lebte im 8. Jahrhundert vor
Christus, Jeremia im 7. Jahrhundert vor Christus und erlebt den Fall Jerusalems
und dessen Einnahme durch die Babylonier im Jahre 586 v. Chr. Diesem Untergang
des Südreichs Juda unter Nebukadnezzar folgt die so genannte "Babylonische
Gefangenschaft" bzw. das "Babylonische Exil" bis zur Rückkehr im
Jahre 538 v. Chr. Das "Babylonische Exil" gilt in der Geschichte des
Judentums allerdings - neben dem Rückfall in die politische Bedeutungslosigkeit
- als Höhepunkt der Glaubensentwicklung (Entstehung der Priesterschrift mit der
Schöpfungsgeschichte, Betonung des Sabbats als Kennzeichen der Juden,
Entwicklung zum Monotheismus).
Neben der prophetischen Kritik an sozialen Missständen, die wir im AT an
verschiedenen Stellen finden, gibt es im Ersten Testament (oder der Hebräischen
Bibel), wie das AT zuweilen auch genannt wird, auch ganz konkrete Normen, die
auch für unsere Zeit durchaus bedenkenswert sind.
So gibt es den Aufruf, Fremdlinge (Asylsuchende) aufzunehmen: Die Israeliten
sollten Fremdlinge nicht - wie offensichtlich geschehen - bedrängen oder
bedrücken bzw. ausbeuten, "denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde
gewesen" (Ex 22, 20).
Der Schutz des Sabbats als Ruhetag gilt nicht nur für die Israeliten, sondern
auch für das Vieh und für Sklaven und Fremden (Ex 23, 12).
Eine besonders weitreichende soziale Regelung ist der so genannte
"Schuldenerlass" (vgl. dazu Dtn 15) in jedem siebten Jahr. In jedem
siebten Jahr sollten auch Anbauflächen brach liegen. Der Ertrag, den die
Anbauflächen dann doch erbringen, gehört den Armen. Zudem gibt es die
Vorschrift, dass in jedem dritten Jahr der so genannte "Zehnte"
abgeliefert werden muss, damit die Fremden, die Waisen und die Witwen, also die
Armen "kommen können, essen und satt werden" (Dtn 14, 28f). Ansonsten
ist der Zehnte für das "Heiligtum" bestimmt.
Gerechtigkeit
im Reich Gottes, Botschaft Jesu als Handlungsimpuls und Vision
Im Neuen Testament ist zwar keine entwickelte Theorie zur sozialen Gerechtigkeit
zu entdecken. Dennoch zeigt die Botschaft vom Reich Gottes und das konkrete
Handeln Jesu, dass die Nächstenliebe gemeinsam mit der Gottesliebe das
wichtigste Gebot ist, dem die Menschen nachkommen sollen. In den Seligpreisungen
der Bergpredigt (Mt 5, 3-12) hebt Jesus Eigenschaften wie Barmherzigkeit,
Gerechtigkeitsliebe und Friedfertigkeit besonders hervor. Die Gerechtigkeit der
Menschen - so Jesus in Mt 5,20 - muss größer sein als die der Pharisäer und
Schriftgelehrten, damit man in das Himmelreich kommt.
Konkrete Nächstenliebe soll - unabhängig von Feindschaften (wie diese zwischen
Israeliten und Samaritern bestand) in der Not überwunden werden. Das klassische
Beispiel hierfür ist das bei Lukas überlieferte "Beispiel vom
barmherzigen Samariter" (Lk 10, 25-37). Die Hilfe des Samariters ist
bedingungslos und selbstverständlich. Er unterstützt den unter die Räuber
Gefallenen weit über das eigentlich erforderliche Maß ohne auf Entgeltung zu
achten.
In geradezu provozierender Weise weist er die Reichen darauf hin, dass sie
verantwortlich mit ihrer Privilegierung umgehen müssen. Den Armen spricht er
das Reich Gottes zu (Lk 6, 20b), den Reichen und Satten gegenüber stimmt er
einen "Weh-Ruf" an (Lk 6, 24f). Die lukanische Feldrede (Lk 6, 17 -
49; die Parallele zur matthäischen Bergpredigt) zeigt - neben anderen Worten
Jesu - seine besondere Nähe zu den Entrechteten, Ausgestoßenen und Armen an.
So hat Jesu Botschaft durchaus auch eine soziale Dimension. Sie richtet sich vor
allem auch an die, die etwa durch Kollaboration mit den Römern zu Reichtum
gekommen sind (Zöllnern, Priesterschicht) und fordert an vielen Stellen dazu
auf, die zu Unrecht und unschuldig in Not Geratenen zu unterstützen (vor allem
waren dies Witwen und Waisen oder auch Kranke, weil es für diese Menschen
eigentlich nur die Solidarität der anderen gab, um zu überleben). Bekannt ist
auch die Stelle, wo Jesus "vom rechten Gebrauch des Reichtums" spricht
(Lk 16, 9-13). Dabei warnt er ausdrücklich davor, sich ganz dem
"Mammon" und damit dem Reichtum zu verschreiben (Lk 16, 13). Vielmehr
gilt es, "mit Hilfe des ungerechten Mammons sich Freunde zu machen",
also das Geld - wenn man so will - sozialpflichtig einzusetzen.
Wie entscheidend das Verhalten der Menschen zu den Mitmenschen, vor allem
gegenüber denen, die in Not geraten sind, für das Heil der Menschen ist, zeigt
auch die bekannte Rede vom Weltgericht (Mt 25), die in der Formulierung
"Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan" (Mt 25, 40) gipfelt.
Zusammenfassend zeigt die jesuanische "Kreativität der Liebe", dass
gegen Ungerechtigkeiten und Not in der Welt vorgegangen werden kann. Dennoch
kann das Neue Testament nicht für irgendwelche sozialistischen Phantastereien
herangezogen werden. Das Privateigentum und wirtschaftliches Verhalten werden
durchaus geachtet, wie u. a. auch das Gleichnis vom "anverrtrauten
Geld" (Mt 25, 14-30) zeigt.
Verständnis
von Gerechtigkeit in der Bibel
Nach biblischem Verständnis bedeutet
Gerechtigkeit übrigens nicht die unparteiische Gleichbehandlung aller. Vielmehr
meint Gerechtigkeit - wie auch aus obigen Beispielen deutlich zu erkennen - die
Parteinahme und den Einsatz für Benachteiligte. So äußert sich Gottes
Gerechtigkeit gerade im Eintreten für Schwache und Hilfsbedürftige, für
Witwen und Waisen, für
Fremde und Unterdrückte. Diese Form von Gerechtigkeit schafft Gemeinschaft,
schafft Frieden zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Menschen
und Gott. Gottes Gerechtigkeit geht dabei - wie es auch die Menschen des Alten
Testaments erfahren haben - weit über das hinaus, was eigentlich gerecht wäre.
Das Volk wendet sich immer wieder von Gott ab, Gott aber wendet sich immer
wieder neu dem Volk zu. Gerechtigkeit Gottes hat also immer auch mit Gnade und
Barmherzigkeit zu tun.
Schließlich wird im Neuen Testament die Gerechtigkeit Gottes in Kreuz und
Auferstehung Jesu offenbar. Jesus, so die Überzeugung der Christen, hat
stellvertretend für die Menschen die Vergebung der Sünden erwirkt und somit
die Menschen gerecht gemacht vor Gott. Dies ist zwar eine sehr tiefe
theologische Erkenntnis, bestätigt aber dennoch, dass Gerechtigkeit in
biblischem Verständnis immer mit Gnade zu tun hat.
[1] Deuteronomium heißt eigentlich die „zweite Gesetzgebung“. Das Buch ist formal eine Sammlung von Mose-Reden, deren Inhalt der Monotheismus, die Erwählung des Volkes Israel, der Bund Gottes mit seinem Volk und die Liebe ist. Die Gesetze in Dtn 12-26, dem Deuteronomischen Gesetzbuch sind als Kommentar zum Dekalog zu verstehen.
[2] So werden die Gesetze im Bundesbuch (Ex 21 bis 23), die aus Konkretisierung des Dekalogs verstanden werden können, durchaus mit Strafen, die ein bestimmtes Vergehen nach sich ziehen, versehen (vgl. etwa Ex 21, 12-17)
[3] JHWH wird als das Tetragramm des Gottesnamens bezeichnet. Ob die Aussprache nun Jahwe oder Jachwä oder gar Jehova ist, lässt sich letztlich nicht eindeutig festlegen. Der Gottesname wurde ohnehin nur selten ausgesprochen, weil – wie auch heute noch bei streng gläubigen Juden gültig – die Ehrfurcht vor der Größe Gottes es verbietet, seinen Namen auszusprechen.
[4] Im Weiteren wird die deuteronomistische Zählung als die „klassische Zählung“ übernommen.
[5] Nebenbei sei bemerkt, dass
dabei in der Fassung Ex 20,10f das Sabbatgebot mit dem Ruhetag Jahwes beim
Schöpfungswerk begründet wird, in Dtn 5, 15 aber als Begründung die
Befreiung aus Ägypten genannt wird. Der Begriff Sabbat bedeutet in der hebräischen
Sprache als „schabat“ aufhören, ruhen. In der jüdischen Tradition
wurden ausgehend vom Sabbatgebot zahllose Sabbatgesetze entwickelt, die zum
Teil heute noch von streng gläubigen, also orthodoxen Juden befolgt werden.
Übrigens: Orthodoxe Juden dürfen bis auf den heutigen Tag am Sabbat nichts
machen, was irgendwie mit Arbeit zu tun hat. Dazu gehört sogar schon der
Tastendruck in einem Aufzug. "Sie dürfen nichts in Bewegung setzen,
was nicht dem göttlichen Willen entspricht", erklärt Paul Spiegel in
einem Gespräch mit Johannes B. Kerner. Deshalb gibt es in israelischen
Hotels Aufzüge, die sich während der 24 Stunden des Sabbat auf Automatik
umstellen lassen. Sie halten dann von selbst alle zwei oder drei Stockwerke
an, der Rest muss zu Fuß erledigt werden. (zitiert nach: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/3/0,1872,2129827,00.html,
08.06.04)
[6]
Schuldsklaven sind Israeliten, die ihre Schulden nicht bezahlen können oder
größere Diebstähle gemacht haben und dann als Schuldsklaven bei ihren Gläubigern
ihre Schuld abarbeiten mussten. Insgesamt waren die Sklaven in Israel stärker
geschützt als in anderen Kulturen. So durften sie auch am Sabbat ruhen oder
gar fliehen, wenn sie schlecht behandelt wurden.
[7] In der Darstellung der
Bedeutung der folgenden Gebote habe ich im Wesentlichen die Ausführungen
von Gerhard Krisper, Der Dekalog als Charta der Freiheit, übernommen.
Quelle: http://www-theol.kfunigraz.ac.at/kat/rb/umat/dekalog.htm, 9. Juni
2004
[8] Im Folgenden übernehme ich weitgehend die Ausführungen aus Wege 1, Soziale Gerechtigkeit, Schülerheft für den kath. Religionsunterricht Jahrgangsstufen 12 und 13 der Gymnasien in Baden-Württemberg, Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, unveränd. Nachdruck 1996, S. 17
Stand: Februar 2005