Zugänge zum Glauben und Konsequenzen aus dem Glauben
Zugänge zum Glauben
Glauben und der Glaube an Gott sind nach
christlichem Verständnis nicht vom Menschen selbst gewirkt, sondern letztlich
Gnade Gottes, die allerdings erst durch die Offenheit des Menschen Wirklichkeit
werden kann.
Dennoch gilt, dass der Glaube nicht einfach den Menschen überfällt, selbst
wenn es immer wieder überraschende Bekehrungen gibt.
Die Glaubensfrage stellt sich den Menschen in vielfältiger Weise. Zunächst ist
festzustellen, dass der Glaube vom Hören kommt. Menschen wachsen als Kinder in
den Glauben hinein, wenn im Elternhaus über Glaubensfragen gesprochen wird,
wenn die Eltern mit ihren Kindern den Gottesdienst besuchen, wenn die Kinder
biblische Geschichten hören und ihre oft existentiellen Fragen nicht einfach
als Phantastereien abgetan werden. Kinder sind - so kann man durchaus festhalten
- sehr tiefsinnige Theologen, weil sie eben danach fragen, wie Gott es mit den
Menschen und der Welt hält. Albert Biesinger, ein Tübinger Professor für
Religionspädagogik, hat ein Buch mit dem Titel "Kinder nicht um Gott
betrügen" geschrieben. Darin fordert er Eltern auf, sich mit den Kindern
auf den Weg des Glaubens zu begeben, nachzufragen, weiterzudenken, Religion,
Rituale, Symbole, Gebete nicht einfach aus dem Leben zu verbannen.
Selbstverständlich ist die Erfahrung von Vertrauen und Liebe im Kindesalter
fast schon Voraussetzung dafür, auch im späteren Leben vertrauen, lieben, ja auch glauben
zu können, weil eben Glaube immer auch mit letztlich nicht beweisbarem
Vertrauen zu tun hat. Erikson sprach in diesem Zusammenhang vom
"Urvertrauen" in die Sinnhaftigkeit des Lebens und der Welt, das die
Eltern den Kindern schenken können.
Ein erster Zugang zum Glauben ist also gewiss das Vorbild der Eltern. Dennoch
bleibt die Suche nach Gott, die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen eine
lebenslange Herausforderung und Aufgabe. Nicht selten lösen sich nämlich
Jugendliche mit zunehmenden Alter nicht nur vom Elternhaus, sondern gleichzeitig
vom Glauben, den sie im Elternhaus erfahren haben.
So ereignet sich der Zugang zum Glauben in den individuellen Lebensgeschichten
immer wieder neu, manchmal auch als Loslösung vom Glauben (vielleicht auch nur
für eine begrenzte Zeit). Es ist eine Erfahrungsweisheit, dass gerade in der
Zeit nach der Firmung bis in die Phase der Familiengründung die Bindung an
Religion, Glaube und Kirche vielfach sehr lose ist.
Wie uns etwa Oser/Gmünder deutlich gemacht haben, bleibt der Glaube insgesamt
und die Gottesvorstellung in einer Biographie nur äußerst selten stehen. Es
gibt tatsächlich eine Entwicklung des Glaubens und der Gottesvorstellung, die
ganz wesentlich von Erfahrungen, Haltungen und der je unterschiedlichen
Bereitschaft, Veränderungen im Leben hinzunehmen und zu gestalten, abhängig sind. Der Zugang zum
Glauben ist also auch eine Frage dergestalt, dass ich offen sein
sollte für die Interpretation meines Lebens, dass ich neben der Möglichkeit
der Zufälligkeit oder der Selbstgestaltung meines Lebensschicksals auch das
Wirken Gottes für möglich erachte. Auch in diesem Zusammenhang spielt die
Grund-Disposition des Menschen eine wichtige Rolle. Ein Mensch, der eher von
Misstrauen (Pessimist) geprägt ist, wird sich vielfache Lebensmöglichkeiten
(nicht nur in Bezug auf den Glauben) verbauen, jemand, der eher das Vertrauen
als Grundzug seiner Lebenshaltung sieht, wird bereit sein, sich auf Neues
einzulassen, neue und sinnvolle Lebensmöglichkeiten wagen und gestalten.
Misstrauen und Vertrauen bilden auch im Umgang mit dem, was wir
Kontingenzerfahrungen nennen, zentrale Beurteilungsraster.
Kontingenzerfahrungen
Die Frage nach Gott hängt unmittelbar mit der Frage nach dem Sinn des
Lebens zusammen. Die Sinnfrage wiederum wird vor allem in Krisensituationen des
Lebens gestellt. Dabei soll "Krise" in diesem Zusammenhang nicht nur
negativ oder bedrohlich verstanden werden. Krise bedeutet nämlich letztlich
eine Zeit der Entscheidung, ein Wendepunkt im persönlichen Leben.
Dabei werden konkrete Lebenserfahrungen oftmals als kontingent (lat. contingere
= von einem anderen her zukommen) erfahren. Solche Kontingenzerfahrungen, in
denen sich die Gottesfrage und die Frage nach Glauben oder Ablehnung des
Glaubens stellen sind:
- Persönliche Schicksalsschläge, wie etwa Kriegserlebnisse, der Verlust
eigener Angehöriger, unverschuldetes Leid, Krankheit, Not oder Tod, Zerbrechen
menschlicher Beziehungen (Freundschaften, Partnerschaften) treffen den Menschen
existentiell. Die Frage nach dem Sinn, die Sehnsucht nach einer sinnstiftenden
Ordnung, die Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach
Frieden, fordern den Menschen heraus. Dabei gibt es beides. Die tiefe
Überzeugung, dass es etwas geben muss, dass trotz aller offensichtlichen
Sinnlosigkeit einen Sinn in Not, Krankheit und Tod gibt, aber auch die Ablehnung
Gottes, der so etwas zulässt. Vielleicht trifft das offensichtliche Paradoxon
zu. Angesichts der Trauer über den Tod eines nahen Angehörigen oder Freundes
wird die Frage, ob es denn einen (gütigen) Gott geben kann, unausweichlich.
Gleichzeitig lassen sich solche Schicksalsschläge vielleicht nur dann ertragen,
wenn man an einen tieferen Sinn glaubt, wenn man daran glaubt, dass das Leben
auf Erden nicht alles ist, sondern eben nur ein Augenblick im Sein des Menschen.
Leid ist somit zugleich dringlichste Anfrage an Gott (vgl. die Formulierung von
Georg Büchner: "Das Leid ist der Fels des Atheismus") und den Glauben und zugleich
vielleicht der intensivste Hinweis darauf, dass es Gott geben muss, weil sonst
das Leid wirklich nur noch "sinn-los" sein kann.
- In der Erfahrung von (unbeabsichtigter, nicht gewollter) Schuld oder in der Erfahrung von Einsamkeit erfahren
Menschen Kontingenz (Kontingenz kann auch als Zusammentreffen oder Zufälligkeit
übersetzt werden) als Begrenztheit, weil sie eben offensichtlich nicht
alles gestalten können, wie sie es sich vorstellen. Als Konsequenz aus diesen
Erfahrungen kann die Sehnsucht nach Vergebung der Schuld, die Sehnsucht nach
Geborgenheit in Gemeinschaft aufleben, die den Menschen letztlich andere
Menschen nicht geben können.
- Schließlich wird das Leben aber nicht nur von negativen Erfahrungen geprägt.
In der Erfahrung, angenommen, bejaht, geliebt zu werden, in Augenblicken des
Erfolgs, des Glücks, im Erlebnis, eine Krankheit überwunden zu haben, eine
Krise bewältigt zu haben, stellt sich durchaus auch das ein, was wir
Kontingenzerfahrung nennen können. Dem Menschen kommt etwas zu, was er
vielleicht nicht einmal zu hoffen gewagt hätte. In solchen Erfahrungen kann
sich durchaus ein Zugang zu Gott über die Dankbarkeit ergeben. Dann wird Gott
vielleicht als "Geber aller (guten) Gaben" verstanden.
Die obigen Ausführungen können leicht bestätigt werden, wenn wir daran
denken, dass gerade in Kontingenzerfahrungen - negativen wie positiven -
Menschen beten. Das Gebet wird dabei oftmals zur Bitte, nicht selten aber auch
zum Dankgebet für ein unerwartetes Geschenk. Dass das Gebet aber auch zur
Anfrage, vielleicht sogar zur Anklage Gottes wird oder werden kann, hat uns
nicht erst Hiob (Ijob) gezeicht. Auch die 150 Psalmen des Alten Testaments, die
als Gebete von den Juden oftmals auswendig gelernt wurden, enthalten neben Lob
und Dank und Jubel über die guten Taten Gottes wie selbstverständlich auch
Klage und Anklage. Glück und Wohlergehen werden als Geschenk Gottes verstanden,
in Leid, Not und Tod wird die Begleitung Gottes erhofft und erfleht.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass auch in Kontingenzerfahrungen sich die
Gottesfrage und der Glaube nicht unmittelbar erschließen. Es bleibt die
Notwendigkeit der Disposition, der grundsätzlichen Offenheit im Hinblick auf
die Möglichkeit der Transzendenz oder der apodiktischen Ablehnung derselben.
Kontingenzerfahrungen machen alle Menschen. Die Disposition lässt sich daran
erkennen, ob die Menschen solche Erfahrungen als bloßen "Zufall" oder
als Schicksal oder als "Fügung Gottes" interpretieren.
Andere Zugänge
Glaubenszugänge können sich neben den o. a. Kontingenzerfahrungen in der
je individuellen Lebensgeschichte auch in anderen Situationen ergeben. So sehen
Menschen "Spuren Gottes" zum Beispiel
- in der Natur, der Ordnung der Natur, der Ästhetik derselben oder auch in den
Naturgewalten
So weiß man etwa auch von Naturwissenschaftlern, die tiefe Erkenntnisse in die
Struktur des Lebens und der Welt ergründet haben, dass sie durchaus eine
ordnende Macht als Möglichkeit akzeptieren. Auch von Albert Einstein, der vor
50 Jahren gestorben ist, ist überliefert, dass er durchaus oft von Gott
gesprochen habe. Damit meinte er ein göttliches Ordnungsprinzip, das die Natur
durchwaltet. Diese zu erkennen, diesem auf die Spur zu kommen, war für ihn die
größte wissenschaftliche Herausforderung. "Jedem tiefen Naturforscher
muss eine Art religiösen Gefühls nahe liegen, weil er sich nicht vorzustellen
vermag, dass die ungemein feinen Zusammenhänge, die er erschaut, von ihm zum
ersten Mal gedacht werden. Im unbegreiflichen Weltall offenbart sich eine
grenzenlos überlegene Vernunft", so ist es von Einstein wörtlich
überliefert. Ob er allerdings ein religiöser
Mensch war, der an Gott als ein personales, geschichtsmächtiges Wesen glaubte,
ist eher ungewiss. Auch Werner Heisenberg (1901-1976), der als Begründer der
Quantenmechanik und der nach ihm benannten "Unschärferelation" zu
physikalischem Weltruhm gelangte, nimmt eine Mitte und eine zentrale Ordnung an,
auf die hin alle Teilbereiche der Wirklichkeit bezogen sind und durch sie
begründet werden. Von diesen Bekenntnissen an eine "ordnende Macht"
unabhängig, haben die Naturwissenschaftler selbstverständlich ihre Arbeit nach
dem Prinzip des "methodischen Atheismus" angelegt (also grundsätzlich
und methodisch die Möglichkeit Gottes aus ihren Überlegungen heraus genommen).
- in Meditation und Versenkung
Menschen erspüren Gott dann, wenn sie sich von den irdischen Sachzwängen
lösen und das Dasein meditativ bedenken. Dazu kann auch die Liturgie, der
Gottesdienst, dienen.
- im Vorbild anderer Menschen
Das Vorbild von Zeugen, die aufgrund ihres Glaubens ihr Leben ausgerichtet
haben, führt nicht selten auch dazu, dass andere Menschen die Faszination des
Glaubens erahnen. Dabei ist nicht so sehr das verbalisierte Glaubenszeugnis
überzeugend, sondern die Haltung, die man als "Zeugnis ohne Worte"
bezeichnet. So etwa die Haltung eines Maximilian Kolbe, der als gläubiger
Mensch sein Leben für das eines zum Tode Verurteilten einsetzte und im
Hungerbunker der Nazis den anderen zum Tode Verurteilten bis zuletzt tröstend
zur Seite stand.
- durch die Bibel
Menschen kommen auch durch die Auseinandersetzung mit der Bibel, der Offenbarung
Gottes, zum Glauben. Das Beispiel Jesu, dessen unbedingte Liebe zu den Menschen
und zu Gott, kann so faszinierend sein, dass Menschen ihrem Leben mit dem
Glauben eine neue Dimension geben.
- im Blick auf die Grundfragen des Menschen
Als Grundfragen des Menschen gelten: Wer bin ich?, Woher komme ich?, Wohin gehe
ich? Was ist der Sinn des Lebens? Warum bin ich überhaupt? All diese Fragen führen bei einer intensiven
Auseinandersetzung auch auf die Frage nach Gott. Wenn etwa der Mensch sich nicht
damit zufrieden geben kann, dass er das mehr oder weniger zufällige Ergebnis
eines Zeugungsaktes ist, ergibt sich zwangsläufig die Frage danach, ob die
eigene Existenz nicht doch Teil eines sinnvollen Ganzen ist. Wenn auch die
philosophische Frage nach der Endlichkeit menschlichen Seins nicht nur als
Zufälligkeit betrachtet wird, kann durchaus die Dimension Gottes, die
Möglichkeit einer Transzendenz und die Hoffnung auf ein "Weiterleben nach
dem (irdischen) Tod bedacht werden.
Anthropologische Annäherung
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" (erster Satz des
Grundgesetzes, Art. 1, Abs.1). Darin sind sich wohl alle demokratischen
Gesellschaften einig. Die Begründung für diese Würde des Menschen fehlt
allerdings. Ja, im Gegenteil, diese wird in unserer Zeit zunehmend in Frage
gestellt. So werden Bedingungen gestellt, ab wann und unter welchen
Voraussetzungen ein Mensch ein Mensch ist, dem dann die oben ausgesprochene
unantastbare Würde zukommt. Für Gläubige gibt es allerdings eine tiefe und
transzendente Begründung der Würde. Die Gottebenbildlichkeit transzendiert den
Menschen und enthebt ihn so jeglicher menschlicher Verfügbarkeit. Golo Mann hat
es einmal so formuliert: "Es ist mit dem Humanismus, der nicht über sich
selbst hinausweist wie mit einer abgeschnittenen Blume. Man weiß nicht, wie
lange sie hält." Die Grundüberzeugung der Unantastbarkeit menschlicher
Würde verweist auf die Sehnsucht nach Transzendenz, die diese Würde sichert
und garantiert. Im christlichen Glauben ist diese philosophische Transzendenz
nicht anonym, nur jenseitig enthoben, sondern erschließt sich dem Menschen als
personale Wirklichkeit, wird zu ansprechbaren DU.
So wird Gott zum Fundament ethischen Handelns (vgl. das Gewissen als
"Stimme Gottes") und gleichzeitig zum Garant menschlicher Würde.
Konsequenzen aus dem Glauben
Glaube, der sich auf den sonntäglichen
Besuch des Gottesdienstes reduziert, ist in der Gefahr, zur Fassade zu werden.
In manchen Situationen ist es nämlich durchaus auch opportun, sich als
glaubender Mensch zu präsentieren. Jemand der glaubt, suggeriert durchaus
Anständigkeit.
Überzeugender Glaube ist allerdings doch der, der im Leben, im Alltag spürbar
wird. Glaube sollte prägend sein. Wer glaubt, lebt anders. So konkretisiert
sich der Glaube durchaus in der Begegnung mit anderen Menschen. Christlicher
Glaube, der vom Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe lebt, erlaubt es
nicht, Menschen gering zu achten, Menschen zu verletzen (ob körperlich oder
seelisch). Im Gegenteil. Glaube ermutigt zum Menschsein, ermutigt, dass
Menschen sich als Abbild Gottes erfahren, fordert heraus, dass sich Menschen
ihrer Freiheit und Verantwortung bewusst werden.
So gesehen kann Glaube auch von Abhängigkeiten gegenüber den offensichtlichen
Verlockungen des Lebens befreien. Wer glaubt, wird sich nicht dem Machstreben,
der Jagd nach Geld, Erfolg, Reichtum hingeben, sondern sein Leben auch für
andere einsetzen, ohne sich dabei selbst zu verleugnen. Wer glaubt, kann auf eine
"Einbürgerung in die Welt mit Haut und Haaren" (R. Safranski)
verzichten und sich frei machen von den anscheinend so wichtigen Sachzwängen
des Erfolgs und des Strebens nach Reichtum und Anerkennung. Wer glaubt, kann
durchaus "fröhlicher, gelassener" aussehen (in dieser Hinsicht hat
Nietzsche mit seiner Anfrage an die glaubenden Menschen durchaus Recht). Wer
glaubt, auch diese Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt, entscheidet nicht aus
egoistischen Überlegungen und Vorteilserwägungen, sondern findet seine
Entscheidung auch im Gebet, wenn er also sich Gott anvertraut und auf Gottes
Anruf hört.
Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Menschen sich aus ihrer Überzeugung
für den Glauben durchaus auch unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen
für andere eingesetzt haben und dabei ihre Berufung lebten. Selbst wenn es
nicht opportun sein sollte, sich auf die Seite der Entrechteten, der
Minderprivilegierten zu stellen, haben in allen Erdteilen Menschen ihre
Glaubensüberzeugung in konkretes Handeln übersetzt. Beispiele hierfür sind u.
a. Mutter Teresa, die ursprünglich als Lehrerin für "betuchte
Mädchen" im Orden der "Mary-Ward-Schwestern" lebte. Angesichts
des Elends, das sie in Kalkutta sah, verschrieb sie sich dann allerdings ganz
denen, die im Elend lebten. Sie verließ ihre behütete (und dennoch gewiss
sinnvolle) Tätigkeit und setzte konsequent um, was sie im Appell Jesu "Was
ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan" (Mt 25,40) erfahren hatte. Sie handelte spontan, so wie es der
"barmherzige Samariter" (Lk 10, 25-37) getan hatte. So half sie
zunächst den Sterbenden, den dem Tode Geweihten, und gab diesen Menschen
wenigstens im Sterben ein Zeichen der Menschenwürde. Später gründete sie die
Kongregation der "Missionarinnen der Nächstenliebe", die noch heute
sich den Sterbenden, aber auch kranken Menschen zuwenden und ihnen so Hoffnung
schenken.
Konsequenzen aus dem Glauben zeigen sich aber auch dort, wo sich Menschen für
andere einsetzen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie selbst verachtet werden
oder Nachteile erfahren. Glaube wird auch dort konkret, wo es gilt, in
"entscheidenden" Positionen - etwa in der Politik - für das Leben
einzutreten, sich zu solidarisieren mit denen, die Ungerechtigkeit erfahren,
lästig zu werden, wenn es gilt, die Rechte derer zu vertreten, die keine Lobby,
keine Fürsprecher haben.
Christen sehen durch ihren Glauben einen Auftrag zur Weltgestaltung. Sie fühlen
sich herausgefordert, ihren Beitrag für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung
der Schöpfung einzubringen. Nach biblischem Verständnis sind die Menschen
aufgefordert, an der Schöpfung und damit der Gestaltung der Welt mitzuwirken (creatio
continua; Mensch als Hüter und Bewahrer der Schöpfung). Dabei orientieren sie
sich an dem Dreischritt "Sehen" (wo die Not ist) -
"Urteilen" (was getan werden kann) - "Handeln" (Umsetzung in
konkretes Tun). Nicht jeder Christ kann in diesem Zusammenhang die ganz großen
und weltverändernden humanitären Einsätze erbringen, weil auch Christen
zunächst in ihrem Mikrokosmos der Familie, des Arbeitslebens, der Gemeinde
Verantwortung tragen. Für sie gilt die Überzeugung eines afrikanischen
Sprichworts, das besagt: "Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten
viele kleine Schritte tun, dann verwandelt sich das Antlitz der Erde".
Beispiele für konkretes, wenn vielleicht auch nicht gerade Aufsehen erregendes
christliches Engagement sind die vielfältigen "ehrenamtlichen
Dienste" im Bereich der Caritas oder Diakonie (Hospiz-Bewegung, also die
Begleitung von Sterbenden; Obdachlosenhilfe, etwa durch Mitarbeit in einer
"Suppenküche"; Nachbarschaftshilfe; Begleitung von Trauernden) oder
auch das fürbittende Gebet. Im Zusammenhang mit der "sozialen Frage"
werden diese konkreten Hilfeleistungen als "Hilfe ex caritate"
bezeichnet. Zu dieser unmittelbaren Hilfe muss allerdings die "Hilfe ex
iustitia", also strukturelle Veränderung und gesellschaftspolitische
Arbeit und Einflussnahme hinzukommen, damit eine "Kultur der
Barmherzigkeit" wachsen kann.
Auch die Kirche als "Organisation" zeigt, dass sie sich durchaus nicht
nur der Liturgie, also dem Gottesdienst, verschrieben hat, sondern durch
vielfältige Maßnahmen das Elend und die Not der Menschen zu lindern sucht.
Dies geschieht durch ganz konkrete und unmittelbare Hilfe, aber auch durch
strukturelle Maßnahmen (vgl. die kirchlichen Hilfswerke wie z. B. Misereor,
Brot für die Welt, Missio, Adveniat, Sternsinger usw.) und dadurch, dass sich die Kirche immer wieder als
Anwalt derer, die nicht oder zu wenig gehört werden, zeigt. In diesem
Zusammenhang darf auch erwähnt werden, dass der Papst und gerade der derzeitige
Papst durchaus eine überparteiliche Autorität ist, deren Position in Fragen
der Verantwortung für die Eine Welt, in Entscheidungen um Krieg und Frieden,
gehört und (vielleicht leider zu selten) auch umgesetzt wird.
Stand: 30. März 2005
Günter Brutscher