Der Mythos erklärt nie nur kausal (=
dem Ursach-Wirkungs-Prinzip folgend) und reduziert auf Einzelheiten (wie
es die Naturwissenschaft versucht), sondern sieht immer den Sinnzusammenhang.
Gemäß dem Mythos sind die Erscheinungen des Lebens also nie zufällig,
sondern immer sinnvoll im besten Sinne des Wortes.
Der Mythos erschließt die empirisch erfahrbare Welt, deren Sein und
das Geschehen in ihr (von den Naturgewalten bis hin zu den letztlich
unbegreifbaren Phänomenen wie Leid, Tod, Liebe, Hass, Hoffnung, das Böse,
die Schuld, Gott...) und den Menschen und sein Handeln durch den Bezug zur
Transzendenz, zum Göttlichen, zum das die Grenzen der Welt Überschreitenden.
So ist der Mensch in die Sphäre des Göttlichen emporgehoben. Diese
göttliche Dimension des Erfahrbaren ordnet, strukturiert, überhöht das
Irdische.
Zeit und Raum, in der der Mythos
spielt, ist außerhalb der irdischen Zeit und jenseits des erfahrbaren Raumes
und nicht einzuordnen.
Für den Mythos gilt: „Es geschah nirgends, ist aber immer und überall“.
Die Erfahrung des Mythos wird im kultischen Handeln lebendig und wirksam,
gefeiert und erinnert.
Die Entstehung eines Mythos fordert ein hohes Maß an Reflexionsvermögen und
Strukturierung des Erfahrbaren und zeigt so ein hohes Maß an wirklicher
Intelligenz, selbst wenn die Zugänge zu den Geheimnissen der Welt und des
Menschseins durch den Mythos einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise
nicht standhält, ja gar nicht standhalten kann und will.
Da der Mythos die letztlich unergründlichen Geheimnisse des Lebens, der Welt,
des Menschen und dessen Bezug zum Göttlichen, als sinnvoll zu erklären
sucht, lassen sich verschiedene Elemente des Mythos unterscheiden. Deutungen
des Mythos, wie es zu dem Phänomen der Götter oder des einen Gottes kommt,
werden als „Theogonie“ (= Ursprung der Götter)
[1]
, der Ursprung des Menschen als „Anthropogonie“
[2]
, der Ursprung der Welt und des Universums als „Kosmogonie“
[3]
und die Deutung der Gesellschaft und des menschlichen
Zusammenlebens als „Soziogonie“ bezeichnet.
Kritisiert
wird, dass der Mythos die „logische“ Erklärung der Phänomene ersetzt,
verdeckt und die Erschließung der empirischen Kausalitäten behindert.
Dem Mythos wird häufig vorgeworfen, dass er in seiner narrativen (=
erzählerischen) Form, in seiner mit Bildern, Symbolen und
Personifikationen arbeitenden Darstellung bloße Erfindung sei und keine
Erkenntnis ermögliche. Diese Mythoskritik setzt schon in der griechischen
Philosophie mit Sokrates und seinen Nachfolgern an.
Die moderne Wissenschaft überwindet anscheinend den Mythos durch die
berechenbaren, verifizierbaren (= naturwissenschaftlich als richtig
beweisbaren; Gegensatz: falsifizierbar), kausalen (dem Ursache–Wirkungs-Prinzip
folgenden) Erklärungen der Welt und der Phänomene. Die „Entzauberung“
des Mythos und der mythischen Erklärung der Welt und der Menschheit will auch
die Soziologie und die Psychologie erreichen.
Schließlich wurde in der neuzeitlichen philosophischen Anthropologie (=
Lehre vom Menschen) der Mensch völlig unmythisch bestimmt. Sein Bezug zur
einer göttlichen oder transzendenten (= die irdische Wirklichkeit
übersteigenden) Dimension wird vollkommen verneint. Vielmehr wird der
Mensch als sich selbst verantwortliches, über sich verfügendes Subjekt, das
sich als Herr über alle Dinge und als Initiator des geschichtlichen
Geschehens versteht, gesehen. In diesem Sinn ist der Mensch autonom (= sich
selbst bestimmend, sich die Gesetze selbst schaffend; Gegensatz heteronom).
Verteidiger des
Mythos sehen dagegen, dass der Mythos durchaus eine Dimension erschließt, die
über die Nüchternheit des empirisch (= auf Sinneserfahrung beruhend)
und positivistisch (= messbar, beweisbar) Erfahrbaren hinausgeht und
dem abstrakten und rationalen Denken verschlossen bleibt. Auch die
Archetypenlehre des Psychologen C. G. Jung eröffnet eine neue Beurteilung der
Mythen, da die von Jung für alle Kulturen geltenden Archetypen (=
Urbilder) durchaus den Mythen entsprechen. Nach Jung ist der Mensch eben
nicht historisch, nicht rational, nicht soziologisch, sondern ausschließlich
psychologisch zu verstehen. Letztlich ist nach C. G. Jung der Mensch nur durch
den Mythos zu verstehen.
Als Fazit bleibt wohl, den Mythos nicht gegen die Rationalität des
Logos aufzugeben oder umgekehrt. Mythos und Logos befruchten sich gegenseitig.
Zum Schluss sei noch eine Frage erlaubt. Was fehlt der klassischen Theorie zur
Entstehung der Welt, nämlich der Urknall-Theorie, damit sie zum Mythos
würde? Ja genau, die Akzeptanz, dass vielleicht doch irgendjemand die Lunte
angezündet hat, die zum „Big Bang“ führte....
Mit Ergänzungen erarbeitet nach: Karl Rahner (Hg.), Herders
Theologisches Taschenlexikon in acht Bänden, Freiburg 1973, S. 147 bis 153,
Artikel Mythos, Mythologie von Heinrich Fries
[1] Die monotheistischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam kennen keine Theogonie. Die Existenz Gottes wird vorausgesetzt und als gegeben betrachtet.
[2] So gesehen muss der zweite Schöpfungsbericht (Gen 2, 4b – 25), nach dem Gott den Menschen „aus Staub von dem Erdboden“ bildete und ihm „einen Lebenshauch“ in die Nase blies und die Frau aus einer Rippe des Menschen schuf, durchaus als „Anthropogonie“ bezeichnet werden. Sinngehalt des Schöpfungsberichts ist die Verbundenheit des Menschen zur Erde und seine durch den Lebenshauch symbolisierte besondere Stellung. Zudem soll die oftmals als medizinisch nicht verifizierbare Geschichte von der Rippe die tiefe Verbundenheit von Mann und Frau verdeutlichen (vgl. Gen 2, 23). Damit ist gewiss eine letztlich weitreichendere Erklärung der Existenz der Geschlechter erreicht, als wenn diese nur unterschiedliche Hormone oder biologische Kennzeichen vermittelt würde.
[3] Die Erklärung des Kosmos durch den „Urknall“ mag eine gewisse Faszination ausüben. Letztlich ist dieser Ansatz allerdings als wissenschaftliche „Singularität“ (also Einzigartigkeit) auch auf wackligem Boden der Beweisbarkeit. Eine wesentlich tiefere Erklärung für die Welt und den Kosmos ist gewiss die der beiden Schöpfungsberichte, die Welt und Kosmos letztlich von Gottes Wort und in Gottes Hand sehen.