Sozialprinzipien der katholischen Kirche
Im Gegensatz zur evangelischen Kirche, die ihre Soziallehre ausschließlich biblisch begründet (sola-scriptura-Prinzip der evangelischen Kirche) stützt die katholische Kirche ihre Soziallehre auf die Bibel und die „Tradition“, also die in der Geschichte sich entwickelnde Lehrmeinung. Für die katholische Soziallehre waren die Erfahrungen im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der so genannten „sozialen Frage“ von ausschlaggebender Bedeutung. Im 20. Jahrhundert erfuhr die katholische Soziallehre ihre Fortführung und Ausgestaltung mit den klassischen vier Prinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und dem Gemeinwohlprinzip. Ende des 20. Jahrhunderts kam das Prinzip der Nachhaltigkeit hinzu. Die Sozialprinzipien sollen Grundbedingungen für die Gestaltung einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sein.
Personalität[1]
Die Personalität des Menschen ist wohl
das grundlegende Prinzip der katholischen Soziallehre. Begründet wird die
Personalität in der Gottebenbildlichkeit des Menschen (vgl. Gen 1,26f und Psalm
8, 5-7), die jedem Menschen eine unbedingte und menschlicher Verfügung
entzogene Würde, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder sozialer Herkunft,
zusichert. Gottebenbildlichkeit bedeutet aber auch, dass der Mensch zum Dialog
und zur Begegnung mit einem „Du“, einem Gegenüber befähigt und geradezu
verpflichtet ist (vgl. dazu Gen 1,27 „Als Mann und Frau erschuf er sie“,
also auf ein Du bezogen; Gen 2, 18.23 „Es ist nicht gut, dass der Mensch
allein sei...“). Diese Dialogfähigkeit beschränkt sich dabei nicht auf
Menschen, sondern meint auch die Gottbezogenheit. Somit kann biblisch das
Personsein des Menschen so verstanden werden, dass der Mensch auf Gott, auf die
Mitmenschen und die Schöpfung bezogen und hingeordnet ist. Personsein des
Menschen beruht darauf, dass er als Abbild Gottes geschaffen ist (also auf Gott
hingeordnet), einmalig und frei und sich selbst bewusst (mit Vernunft begabt)
und mächtig ist und in einem sozialen Bezug im Rahmen der Nächstenliebe steht.
Schließlich bedeutet Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,26), dass der Mensch in
der Schöpfungsordnung als „Sachwalter Gottes“ eine Sonderstellung inne hat.
Ihm wird „alles zu Füßen gelegt“ (vgl. Psalm 8, 5-7) und seiner
„Herrschaft“ im Sinne von Bewahren und Hüten übertragen. Mit Hilfe der
Vernunft ist er fähig, sich selbst und seine Existenz zu reflektieren und sein
Leben aus freiem Willen und in eigener Verantwortung (also ohne – wie es etwa
für Tiere gilt - instinktgebunden zu sein) zu gestalten, wenngleich auch der
Mensch geprägt ist durch Triebe, Erbanlagen oder durch Umwelteinflüsse. Der
Mensch kann also wohl als einzigstes Wesen „über sich hinausdenken“. Dem
Menschen wird – trotz der vorhandenen Determinationen[2]
- zugesprochen, dass er mit Hilfe der Vernunft Natur wandeln und somit Kultur
gestalten kann.
Personalität darf also nicht auf einen übertriebenen Individualismus oder
Egozentrismus reduziert werden, genauso wenig wie der Mensch einfach als
kollektives Wesen missverstanden werden darf.
So bedeutet Personalität des Menschen, dass – etwa in Bezug auf
wirtschaftssystematische Ansätze – die katholische Soziallehre weder einem
rigorosen Liberalismus noch einem im 19. Jahrhundert entwickelten Kollektivismus
oder Kommunismus folgt. Die katholische Soziallehre wurde oftmals auch als so
genannter „dritter Weg“ bezeichnet.
Alles, was in der Gesellschaft (und Wirtschaft) geschieht, muss nach dem
Personalitätsprinzip an der Würde, den Rechten, der Freiheit und den Bedürfnissen
des Menschen orientiert werden. So haben alle gesellschaftlichen Einrichtungen
den Menschen als Ziel und müssen darauf bedacht sein, dass er seine Personalität
auch leben kann, das heißt dass die Menschen mit einem Minimum an materieller
Sicherheit und Besitz ausgestattet sind, um nicht vollkommen von anderen abhängig
zu sein.
Solidarität – Seins- und Sollensprinzip
Der Mensch ist immer ens personale (also
Einzelwesen und Individuum), als auch ens sociale (also Gemeinschafts- oder
Gesellschaftswesen). Personalität (oder Individualnatur) und Solidarität (oder
Sozialnatur) sind also Wesensbestimmungen des Menschen. Deshalb spricht man im
Zusammenhang mit der Solidarität auch von einem „Seinsprinzip“. Erst in
dieser Kombination ist er auch wirklich Mensch, weil Persönlichkeit (also das,
was die Person ausmacht) erst im wechselseitigen Austausch und im Dialog und mit
in der Beziehung zu anderen entfaltet und verwirklicht werden kann.
Gemeinschaftsbezogenheit, die Offenheit und Verwiesenheit auf die anderen gehören
zum Wesen des Menschseins und ermöglichen die Gesellschaftlichkeit des
Menschen. Somit ist auch das Wohl des Einzelnen immer mit dem Wohl der
Gemeinschaft verbunden. Menschen sind also auf Gemeinschaft ausgerichtet und
verpflichtet, ein gemeinschaftliches Ethos zu entfalten.
Das Solidaritätsprinzip bedeutet demnach, dass aufgrund der Zuordnung von
Person und Gemeinschaft das Wohl des Einzelnen nie vom Wohl der Gemeinschaft
insgesamt losgelöst betrachtet werden kann. Einzelwesen haben also auch einen
Auftrag für die Gemeinschaft, Verantwortung für andere, wie auch die
Gemeinschaft oder Gesellschaft Verantwortung für das Wohl der Einzelnen hat.
Die Aufgabe, dass der einzelne Mensch sich in und für die Gesellschaft
einbringen und engagieren soll, wird als „Sollensprinzip“ bezeichnet.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Solidarität also zugleich Seinsprinzip (gehört
zum Wesen des Menschen), als auch Sollensprinzip (gehört zu seiner
Verantwortung, seinem Auftrag, seinem Sollen) ist.
Eine biblische Begründung des Solidaritätsprinzips wird in den beiden Schöpfungsberichten
gegeben (vgl. oben: Gen 1, 27 und 2, 18.23). Zudem regelt die Bundesordnung
(vgl. Dekalog Ex 20, 1-17 bzw. Dtn 5, 1-21) das solidarische Zusammenleben der
Menschen. Die Bundesordnung geht von einem mit den Menschen solidarischen Gott
aus, der wiederum die Solidarität der Menschen untereinander einfordert. Im
Neuen Testament zieht sich die Solidarität der Menschen durch die gesamte
Reich-Gottes-Botschaft (vgl. z. B. die Bergpredigt Mt 5 oder die der Bergpredigt
weitgehend entsprechende Feldrede Lk 6; der Aufruf zur Nächstenliebe; die
Berufung der 12 Apostel, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Lk 10,
25-37,
wo konkrete Solidarität zum entscheidenden Kriterium für das menschliche Leben
überhaupt wird; die Forderung nach tätiger Nächstenliebe oder Solidarität
wird auch in Mt 25, 31-36.40, also in der so genannten „Rede vom
Weltgericht“ gefordert, wo es heißt: „Was ihr für einen meiner geringsten
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“).
Subsidiarität[3]
Als Zuständigkeitsprinzip regelt die
Subsidiarität die Verhältnisse der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen
und der Individuen untereinander. Es besagt grundsätzlich: Was der Einzelne
oder die kleinere Gemeinschaft eigenverantwortlich leisten kann, sollte nicht
der größeren Gemeinschaft übertragen werden. Was also etwa in der Familie
geregelt werden kann, soll nicht in die Verantwortung des Staates übertragen
werden[4].
Umgekehrt hat die nächstgrößere gesellschaftliche Instanz aber auch die
Pflicht zur Unterstützung der kleineren Gemeinschaft oder des Einzelnen, wenn
notwendige Aufgaben von ihnen nicht mehr aus eigener Kraft gemeistert werden können.
Diese Hilfe soll allerdings dann immer nach dem Prinzip der „Hilfe zur
Selbsthilfe“ erfolgen.
Das Subsidiaritätsprinzip gilt übrigens nicht nur für die Katholische
Soziallehre, sondern zum Beispiel auch für die Sozialversicherungssysteme, für
die Entwicklungshilfe und letztlich auch für das Verhältnis von Lehrern und
Schülern...
Das Subsidiaritätsprinzip wurde in der kirchlichen Lehrverkündigung in der
Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI aus dem Jahre 1931 (also 40
Jahre nach Rerum novarum von Leo XIII) ausgeführt. Die Enzyklika wurde maßgeblich
von dem wohl bedeutendsten deutschen Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning,
einem Jesuiten, vorbereitet. Dort heißt es u. a.: „Wie dasjenige, was der
Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten
kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf,
so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und
untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die
weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu
nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze
Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und
Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen,
darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ (Pius XI, Enzyklika
Quadragesimo anno; Nr. 78f)
Das Subsidiaritätsprinzip hat gerade in unserer Zeit, wo etwa die
Sozialgesetzgebung neu überdacht wird, ganz besondere Bedeutung. Der in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer stärker vernehmbare Ruf nach dem Staat
ist mit dem Subsidiaritätsprinzip kaum vereinbar. Eine Beurteilung dessen, was
der Einzelne allerdings selbst leisten kann und in welchem Bereich er von der
Unterstützung der Gesellschaft und des Staates angewiesen ist, wird weiterhin für
viel Diskussion sorgen. Zudem gewinnen das Subsidiaritätsprinzip und das
Solidaritätsprinzip in weltweiten Maßstäben (vgl. Nord-Süd-Problematik,
Umfang und Struktur der Entwicklungshilfe) ganz neue Bedeutung.
Gemeinwohlprinzip
Das Gemeinwohlprinzip bedeutet, dass
dieses letztlich das Gesamtziel der Gesellschaft ist. Neben den Einzelinteressen
ist bei allen gesellschaftlichen Entwicklungen immer auch das Ganze, das
Gemeinwohl in Blick zu nehmen. Die Beachtung des Gemeinwohls schließt
allerdings auch die Berücksichtigung des Wohls des Einzelnen ein. Grundlage des
Gemeinwohls ist das Streben nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft und in der
Welt. Als Grundsatz gilt: Gemeinwohl geht vor Einzelwohl.
Nachhaltigkeitsprinzip
Mittlerweile (seit Ende des 20. Jahrhunderts) hat sich auch das Prinzip der Nachhaltigkeit
als Kriterium der katholischen Soziallehre durchgesetzt. Nachhaltigkeit
bedeutet, dass wir mit den Gütern und Ressourcen der Erde so umgehen sollen,
dass auch zukünftigen Generationen noch eine Lebensmöglichkeit eröffnet
bleibt. Dabei bezieht sich Nachhaltigkeit ökologisch, ökonomisch und sozial zu
beachten. Im Sozialwort der Kirchen mit dem Titel "Für eine Zukunft in
Solidarität und Gerechtigkeit" heißt es dazu unter anderem: "Die
christliche Soziallehre muss künftig mehr als bisher das Bewusstsein von der
Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problematik wecken. Sie
muss den Grundgedanken der Bewahrung der Schöpfung mit dem einer Weltgestaltung
verbinden, welche der Einbindung aller gesellschaftlichen Prozesse in das -
allem menschlichen Tun vorgegebene - umgreifende Netzwerk der Natur Rechnung
trägt. Nur so können die Menschen ihrer Verantwortung für die nachfolgenden
Generationen gerecht werden. Eben dies will der Leitbegriff einer nachhaltigen,
d. h. dauerhaft umweltgerechten Entwicklung zum Ausdruck bringen"
(125).
Im Folgenden ist eine Definition der Nachhaltigkeit aus "Ernährungssicherung
und Nachhaltige Entwicklung, Eine Studie der Kammer der EKD für Entwicklung und
Umwelt", EKD-Texte 67, 2000 abgedruckt:
"Der Begriff Nachhaltigkeit enthält
zumindest die folgenden ethisch-normativen Aspekte:
- Die ökologische Dimension im Begriff der
Nachhaltigkeit bezeichnet die Notwendigkeit der weltweiten Beachtung von Rückkopplungen
wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen an die natürlichen
Lebensgrundlagen, die erhalten werden sollen. Ressourcenschonung und Prävention
sind zukunftsbezogene Teilaspekte von Nachhaltigkeit und bezeichnen die Sorge für
menschenwürdige Lebensbedingungen für zukünftige Generationen.
- Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als
Gegenwartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die Sicherung der
Grundversorgung für alle Menschen und die Teilhabe aller an den Gütern der
Erde in der Gegenwart mit ein.
- Die politische beziehungsweise
entwicklungspolitische Dimension von Nachhaltigkeit meint ein weltweites
Entwicklungskonzept für alle Staaten und Länder, insbesondere auch zugunsten
von Entwicklungsländern, das dem internationalen und interkulturellen
Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem Frieden dient.
Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung verknüpft also ethische Anliegen des
Umweltschutzes und der Entwicklungspolitik. Gesellschaftliche, wirtschaftliche
und damit auch landwirtschaftliche Strukturen sollen in der Weise zukunftsfähig
gestaltet werden, dass künftigen Generationen keine Hypotheken hinterlassen
werden, die ihre Existenzbedingungen unzumutbar oder gar irreversibel belasten.
Der Begriff der Nachhaltigkeit schließt damit den Gedanken der Vorsorge und den
Versuch mit ein, Handlungsspielräume für zukünftige Generationen offen zu
halten.
Der Dissens beginnt, wenn man versucht, den Begriff nun inhaltlich zu füllen,
denn wenn das Leitbild der Nachhaltigkeit in konkrete politische Maßnahmen übersetzt
werden soll, müssen zuvor Teil-Ziele definiert und beschlossen werden. Es gibt
eine außerordentlich große Spannbreite bereits hinsichtlich der Frage, auf
welche Gegenstandsbereiche sich der Begriff beziehen soll. Ein „enges"
Verständnis will den Begriff der Nachhaltigkeit ausschließlich im Bereich der
Ökologie verortet wissen. Im anderen Extrem erscheint Nachhaltigkeit als
umfassende regulative Idee, an der alle globalen und innergesellschaftlichen
Entwicklungen geprüft werden können.
Es hat sich jedoch ein gewisser Konsens herausgebildet, dass sich das Leitbild
der Nachhaltigkeit zumindest auf die drei Ziel-Dimensionen von Schutz der
Umwelt, Effizienz der Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit beziehen muss. Eine
nachhaltige Entwicklung - ob einer Nation als Ganze oder eines kleineren
Gemeinwesens - ist nur dann möglich, wenn die einseitige Ausrichtung auf eines
der drei Ziele vermieden wird. So bedeutsam die Erhaltung unserer Umwelt ist,
sie muss letztlich doch in Einklang mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen
gebracht werden. Gleichermaßen darf aber auch die Erreichung wirtschaftlicher
Ziele nicht auf Kosten der ökologischen Zustände und des sozialen Ausgleichs
gehen."
Stand: 9. Juni 2004