Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Die Schrift "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" ist im Februar 1997 erschienen. Sie ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens ist die Stellungnahme zur aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von beiden Kirchen, dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz (katholisch) herausgegeben. Zum Zweiten ging diesem "Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz", wie der Untertitel der Schrift heißt, ein mehrjähriger Konsultationsprozess (seit 1994) voraus. Das bedeutet, dass im Vorfeld der Veröffentlichung des "Sozialworts der Kirchen", wie die Schrift abgekürzt genannt wird, kirchliche und gesellschaftliche Gruppierungen (Verbände, Parteien...) und Fachleute um ihre Meinung, ihre Anmerkungen, Korrekturen und Ratschläge nachgefragt wurden. So wurde das "Sozialwort" zu einem echten Gemeinschaftswerk kirchlicher und gesellschaftlicher Gruppierungen und bleibt nicht nur eine der vielen Verlautbarungen vom kirchlichen Amt.
Inhalt des "Sozialworts"
Zunächst beschäftigt sich das Sozialwort mit der "Gesellschaft im Umbruch", wobei vor allem auf die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, aber auch auf die Krise des Sozialstaats (Armut, Benachteiligung der Familien, finanzielle Belastungen des sozialen Sicherungssystems), die ökologische Krise, den Europäischen Integrationsprozess und auf globale Herausforderungen eingegangen wird. In einem zweiten Teil werden "Perspektiven und Impulse aus dem christlichen Glauben" aufgezeigt. In diesem Zusammenhang werden Themen wie die Frage nach dem Menschen, die Weltgestaltung aus dem christlichen Glauben, grundlegende ethische Perspektiven wie das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, die vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten, die Forderung nach Gerechtigkeit und schließlich Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit behandelt. Anschließend versucht das Sozialwort einen "Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft" zu finden. Zu diesem Grundkonsens gehören die Menschenrechte, die freiheitlich-soziale Demokratie, eine ökologisch-soziale (!) Marktwirtschaft, das Menschenrecht auf Arbeit und die Solidarität in einer erneuerten Sozialkultur und internationalen Verantwortung. Im Kapitel "Ziele und Wege" werden Ideen und Vorschläge vorgestellt, um die Arbeitslosigkeit abzubauen, den Sozialstaat zu reformieren, den ökologischen Strukturwandel voranzubringen, die europäische Einigung zu vertiefen und zu erweitern und die Verantwortung in der Einen Welt wahrzunehmen. Der letzte Abschnitt der mehr als 100 Seiten umfassenden Schrift beschäftigt sich schließlich mit den "Aufgaben der Kirchen", deren eigenem wirtschaftlichem Handeln, deren Weltgestaltung und deren Dienst für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.
Zusammenfassend kann also schon bei einer groben Inhaltsangabe festgestellt werden, dass Themen wie Arbeitslosigkeit, soziale Verantwortung, Verantwortung für die Eine Welt, Ökologie und Nachhaltigkeit und Solidarität und Subsidiarität die wesentlichen Elemente des Sozialworts sind.
Vertiefungen und nähere Erläuterungen zum Sozialwort
Schlaglichtartig seien einige wesentliche Elemente des Sozialworts genannt: Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sondern eine solche ermöglichen und fördern, indem sie christliche Wertvorstellungen in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen ("Wächteramt" der Kirchen). Als wichtigste Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird der Abbau der Arbeitslosigkeit betrachtet (gilt bis zum heutigen Tag!!), wobei die Schrift betont, dass volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Sicherheit sich gegenseitig bedingen und brauchen. Weil es Aufgabe des Sozialstaats ist, den sozialen Ausgleich zu schaffen, müssen die Starken und Reichen stärker be- und die Schwachen entlastet werden (!). So wird eindeutig eine Umverteilung von den Reichen zu den Armen eingefordert, was sich aus dem klassischen "Gemeinwohlprinzip" ergibt. Subsidiarität darf bei der sozialen Absicherung nicht so verstanden werden, dass sich der Staat - selbst wenn das Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" gilt - aus seiner sozialen Verantwortung verabschiedet. Solidarität und Gerechtigkeit bezieht sich nicht nur auf nationale Grenzen, sondern muss weltweit gelten und hat somit globale Dimension. Zudem gehört zu einer die heutigen Herausforderungen anpackenden Soziallehre die Frage der Ökologie und der Nachhaltigkeit.
Im Kapitel "Perspektiven und Impulse aus dem christlichen Glauben" werden auf der Grundlage des christlichen Menschenbilds (vgl. Mensch als Abbild Gottes, Gen 1,26f) die "Freiheit, die persönliche Verantwortung, die Solidarität und die soziale Verpflichtung" als Elemente des christlichen Menschenbilds genannt. Die fünf grundlegenden ethischen Prinzipien sind: Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (1) als "sittliche Grundidee der biblischen Tradition", Option für die Armen und Benachteiligten (2), Leitbild der sozialen Gerechtigkeit (3), wobei unter sozialer Gerechtigkeit "der gesellschaftliche Zustand, in dem es allen Menschen ermöglicht wird, am gesellschaftlichen Leben in all seinen Dimensionen teilzuhaben und den je eigenen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten" verstanden wird, Solidarität und Subsidiarität (4), wobei "Solidarität die feste und beständige Entschlossenheit ist, sich für das Gemeinwohl, also für das Wohl aller und jedes einzelnen, einzusetzen" und "Subsidiarität bedeutet, dass Hilfe immer dazu dienen muss, die Eigenständigkeit des Hilfsbedürftigen zu fördern" und schließlich Nachhaltigkeit (5) als "Solidarität mit den zukünftigen Generationen, also intergenerationeller Gerechtigkeit". Nachhaltigkeit wird dabei in klassischer Weise verstanden, also so, dass die ökologische, ökonomische und soziale Dimension der "intergenerationellen Gerechtigkeit" berücksichtigt werden.
Zum Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft gehört die universale, also weltweite Achtung der Menschenrechte (vgl. die Grundrechte des Grundgesetzes), die freiheitlich-soziale Demokratie, die ökologisch-soziale Marktwirtschaft, das juristisch zwar nicht einklagbare, aber moralisch bindende Menschenrecht auf Arbeit(!) und ein neues Verständnis von Arbeit und Arbeitsteilung. Immer wieder wird dabei die internationale Verantwortung, auch der Deutschen, betont.
Im Kapitel "Ziele und Wege" wird der Abbau der Arbeitslosigkeit als die zentrale Aufgabe gesehen. Dabei werden alle auch in der öffentlichen und politischen Diskussion genannten Argumente vorgestellt (Förderung der Bildung, Erschließen neuer Beschäftigungsfelder in Zukunftstechnologien, vermehrtes Angebot für Teilzeitarbeit, Qualifizierungsmaßnahmen usw.). Über die politische Diskussion hinaus geht der Appell, Arbeit zu teilen (!), die wiederholte Formulierung des "Menschenrechts auf Arbeit" (vgl. oben) und die Forderung, die "Dominanz der Erwerbsarbeit" zu überwinden und gesellschaftliche Anerkennung allen Formen von Arbeit (so auch Familienarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten) zukommen zu lassen.
Der gesellschaftliche Umbruch zeigt sich vor allem in der andauernden Massenarbeitslosigkeit, die u. a. durch Produktivitätszuwachs durch Rationalisierungsmaßnahmen und mittlerweile durch Auslagerungen ins Ausland bedingt ist. Besorgt zeigen sich die Verfasser des Sozialworts angesichts
- der zunehmenden Armut (relative Armut: 50 % des Nettodurchschnittseinkommens, Sozialhilfebedürftigkeit, aber auch verdeckte Armut),
- der Benachteiligung der Familie,
- der Veränderung der Altersstruktur unserer Gesellschaft (die Autoren wählen die Formulierung: "zunehmender Anteil älterer Menschen" und vermeiden das Wort "Überalterung"),
- der Kosten der deutschen Einheit
- und der anhaltenden "ökologischen Krise", weil wir noch immer auf Kosten anderer Länder und zukünftiger Generationen unser Umwelt über Gebühr belasten.
Das Sozialwort geht auch schon auf die "Globalisierung" ein, wobei im Sozialwort eine prägnante Definition für diese Phänomen geliefert wird. Globalisierung bedeutet demnach:
- weltweite Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen
- zunehmende Freizügigkeit für unternehmerisches Handeln
- weltweite Verfügbarkeit technischen Wissens und Könnens (etwa über das Internet)
- qualifizierte Arbeitskräfte weltweit
- wachsende Mobilität des Kapitals.
Es wird festgestellt, dass die Globalisierung "Chancen und Risiken" berge.
Für das eigene wirtschaftliche Handeln der Kirchen legt das Sozialwort hohe ethische Maßstäbe an. So muss sich die Kirche ihren Sozialprinzipien ebenso stellen wie der "Verantwortung für die Schöpfung". Besonders hohe Maßstäbe setzen sich die Kirchen im Zusammenhang mit der Verpflichtung "in der Orientierung am Gemeinwohl Grundstücke für öffentliche und soziale Zwecke, vornehmlich für den sozialen Wohnungsbau" zur Verfügung zu stellen.
Mit ihrem Sozialwort wollen die Kirchen erfahrbar werden als
- Orte der Orientierung aus dem Glauben
- Orte der Wahrheit und der realistischen Sicht des Menschen
- Orte der Umkehr und Erneuerung, an denen Menschen sich verändern, auf ihre Mitmenschen und ihre Nöte aufmerksam werden und handeln (nach dem Prinzip: Sehen - Urteilen - Handeln)
- Orte der Solidarität und Nächstenliebe
- Orte der Freiheit, an denen erfahrbar wird, dass Freiheit und Bindung, Selbstentfaltung und Solidarität nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen
- Orte der Hoffnung.
Bewertung
Das Sozialwort der Kirchen stieß seinerzeit auf großes Interesse in der Öffentlichkeit und auf breite Zustimmung. Allerdings hing ihm schon bald der Ruf an, "tot gelobt" zu werden. Die Lobeshymnen aus allen gesellschaftlichen Schichten zeigten, dass das Sozialwort letztlich doch eine Stellungnahme des Ausgleichs war und ist. Einschneidende Veränderungen und Konsequenzen wurden tatsächlich immer wieder und wiederholt im Sozialwort angemahnt (z. B. Option für die Armen, stärkere Belastung der Reichen, Förderung der benachteiligten Familien, globale Verantwortung, Umbau der sozialen Marktwirtschaft zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, soziale Verantwortung des Staates und der Gesellschaft...). Die Forderungen sind allerdings so formuliert, dass sie als "Absichtserklärungen" tatsächlich von allen gesellschaftlichen Schichten, also von den Nutznießern des Reichtums und von den an den Rand Gedrängten, mitgetragen werden konnten.
Vielleicht musste das Sozialwort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" dasselbe Schicksal wie die Bibel erdulden. Dieser nämlich wird immer wieder vorgehalten, dass sie - je nach Interessenslage und "erkenntnisleitendem Interesse" - für alle Forderungen Zitate und Bestätigungen aufweise (was allerdings nicht stimmt!!!).

Stand: März 2005
Günter Brutscher