Ausbreitung und Entstehung des Christentums
Nach Jesu Tod (vermutlich im Jahre 30 n. Chr.) hatte es kurze Zeit den
Anschein, als ob die Sache und die Idee Jesu mit dem Kreuzestod gleichzeitig
„gestorben“ sei. Der am Kreuz Hingerichtete galt nach jüdischer
Vorstellung als von Gott verdammt. Die Jünger und Anhänger Jesu zerstreuten
sich und flohen, weil sie wohl Angst hatten. Nach der
Auferstehungsüberzeugung ereignete sich allerdings eine beeindruckende
Sammlungsbewegung. Die Gemeinschaft derer, die sich für Jesus von Nazareth
begeisterten, entstand neu und mit einer beeindruckenden Dynamik. Zunächst
war Jerusalem das Zentrum dieser Bewegung. Dort verstanden sich die Jünger
anfangs noch als jüdische Gruppierung. Sie besuchten den Tempel oder die
Synagoge und lebten in der jüdischen Religion. Gleichzeitig aber trafen sie
sich in Hausgemeinschaften und feierten die Erinnerung an Jesus. Schon sehr
früh wurde die Taufe, verbunden mit dem Bekenntnis der Sünden, als Zeichen
der Zugehörigkeit zur Gemeinde derer, die an Jesus als den Christus glaubten,
verstanden. Die Taufe bedeutete dabei zugleich Teilhabe an Tod und
Auferstehung Jesu und Zugehörigkeit zur Gemeinde.
Der Gemeinschaftsgedanke und das
Gemeindebewusstsein waren in dieser sogenannten „Urgemeinde“ sehr
ausgeprägt. Gefeiert wurde diese Gemeinschaft – so steht es in der
Apostelgeschichte (vgl. Apg 2, 42 – 47) – im Tempel und in den Häusern.
Das Lob Gottes und das Brechen des Brotes waren von Anfang an Kennzeichen der
Gemeinschaft.
Hinzu kam im Gemeindeleben die Gütergemeinschaft, die in der
Apostelgeschichte geschildert wird. Vermutlich wird diese idealisiert
dargestellt. Es ist anzunehmen, dass die Urgemeinde eine gemeinsame Kasse
hatte, aus der hilfsbedürftige Mitglieder und sozial Schwache unterstützt
wurden.
Die Mahlgemeinschaft (das „Brechen des Brotes“) war ursprünglich
wohl nicht nur Gedächtnismahl, sondern auch als Sättigungsmahl zu verstehen.
Bald schon kam zu dieser Mahlgemeinschaft das hinzu, was wir als „Wortgottesdienst“
bezeichnen, nämlich die Erinnerung an Jesus und das Erzählen seines Lebens
(später auch die Schriftlesung, auch aus dem Jüdischen oder Alten Testament,
die Lehre und Auslegung der Schrift und das Gebet).
Als Kennzeichen und tragende Werte des Lebens in der Urgemeinde sind somit
Solidarität, gegenseitige Fürsorge und Achtung festzustellen. Die
Faszination derer, die an Christus glaubten, ergab sich vermutlich nicht
zuletzt durch die soziale Dimension, die Fürsorge, die Behandlung der Sklaven
(die zumeist frei gelassen wurden) und die Gestaltung des Friedens und der
Vergebung in der Gemeinde.
Eine einheitliche Struktur in den urchristlichen Gemeinden (schon bald
bildeten sich neben Jerusalem andere Gemeinden aus) gab es allerdings noch
nicht, sodass wir von „pluralen Gemeindestrukturen“ sprechen können.
Schon bald nach der Entstehung der Urgemeinde in Jerusalem entstand etwa die
Gemeinde in Antiochia (im heutigen Syrien gelegen) die erste „heidenchristliche“
Gemeinde (vgl. Apg 11, 19 – 30). Heidenchristlich bedeutet, dass die
Gläubigen, die sich nun zu Jesus Christus bekannten, ursprünglich keine
Juden und somit eben „Heiden“ waren (im Gegensatz dazu die „judenchristliche“
Gemeinde).
Größter und wohl bedeutendster Missionar war dabei Paulus, der ursprünglich
die Christen verfolgte, bei seinem „Damaskuserlebnis“ (vgl. Apg 9, 1–19)
aber zum Anhänger und glühenden Verfechter der neuen Bewegung wurde. Von
Paulus sind insgesamt vier Missionsreisen überliefert, die ihn schließlich
bis nach Rom führten, wo er im Jahre 64 dann auch im Zug der
Christenverfolgung unter Kaiser Nero durch das Schwert hingerichtet wurde.
Besonders Verdienste um die Ausbreitung des Glaubens an Jesus Christus erwarb
sich Paulus dadurch, dass er nicht nur viele Gemeinden auf seinen
Missionsreisen gründete, sondern diese auch mit seinen Briefen in
Krisensituationen unterstützte.
Paulus nutzte bei seinen Missionsreisen geschickt die Städte entlang des gut
ausgebauten römischen Straßennetzes. Dadurch und die durch gemeinsame
griechische Sprache kam es zu einer raschen Ausbreitung des Christentums.
Mit der Ausbreitung des Christentums und der Gründung der Gemeinden wurden
auch Strukturen erforderlich. So bildeten sich alsbald Ämter heraus
wie die des Bischofs, des Presbyters und schon sehr früh das des Diakons
(vgl. Apg 6, 1 – 7). Die Übertragung des Amts als einer besonderen Funktion
in der Gemeinschaft geschah immer durch das Gebet und die Handauflegung durch
die Apostel
[1]
.
Die Anforderungen an die Leiter der Gemeinde waren dabei sehr konkret (vgl. 1
Tim 3, 1-7).
Die Vorsteher oder Leiter der Gemeinden hatten ursprünglich durchaus eine
dienende Funktion. Sie waren nicht aus der Gemeinde heraus- oder
hervorgehoben. Im Gegenteil. Lange Zeit wurde betont, dass die verschiedenen
Gnadengaben (= Charismen
[2]
) gleichwertig und gleich bedeutend sind und sich gegenseitig
ergänzen sollten. Diese Idee wird unter anderem im Römerbrief (Röm 12, 4-8)
und insbesondere im 1. Korintherbrief entwickelt (vgl. 1 Kor 12, 4-11 und 1
Kor 12, 12-31)
[3]
. Die Gemeinde lebte von diesen unterschiedlichen Fähigkeiten und
deren Vielfalt. So nur konnte das entstehen, was Paulus mit dem „Leib
Christi“ meint. Wie bei einem Körper müssen auch bei der Gemeinde als „Leib
Christi“ alle Glieder – und seien sie anscheinend noch so gering und
unbedeutend – zusammenwirken, damit dieser Leib „gesund“ ist.
Die Bedeutung aller Gläubigen und deren Beitrag zum Aufbau der Gemeinde und
der Gemeinschaft und zur Verkündigung der „Frohen Botschaft“ (=
Evangelium) wird auch mit dem Begriff des
allgemeinen Priestertums verdeutlicht. Im ersten Petrusbrief
wird diese Vorstellung ausgeführt (1 Petr 2, 3-10). Dabei wird allen
zugesprochen, ein „auserwähltes Geschlecht, eine königliche
Priesterschaft, ein heiliger Stamm“ zu sein. Demnach haben alle Gläubigen
Anteil an dem, was des Priesters ursprüngliche Funktion ist, nämlich die
Mittlerrolle zwischen Menschen und Gott einzunehmen und den Zugang zu Gott zu
eröffnen. Der Priester spricht den Lobpreis auf Gott und bekennt Gott in der
Öffentlichkeit und vor anderen Völkern. Wenn nun alle als „königliche
Priesterschaft“ bezeichnet werden, haben alle auch Anteil an den Aufgaben
des Priesters. Gottesdienst, Verkündigung des Glaubens und der diakonische
Dienst am Nächsten werden so zur gemeinsamen Aufgabe
und sind nicht auf eine bestimmte Gruppe reduziert.
Der Gedanke des „allgemeinen Priestertums“ wurde in der Geschichte der
Kirche zuweilen etwas in den Hintergrund verdrängt. Insbesondere der
Gottesdienst wurde den geweihten Priestern übertragen. Erst mit dem Zweiten
Vatikanischen Konzil (1963 bis 1965) wurde die „tätige Teilnahme“ und die
aktive Mitgestaltung beim Gottesdienst wieder eingefordert. Konkretionen
dieser Neubesinnung auf das „allgemeine Priestertum“ im Gottesdienst sind
zum Beispiel die Aufgaben der Lektoren oder Eucharistiehelfer.
Die „hierarchische Ordnung“ der Weiheämter des Diakons, Priesters
(Presbyter) und Bischofs (Episkopos) entwickelte sich erst im Laufe der Zeit.
Das wohl erste „Amt“ war das des Bischofs, der als Nachfolger der Apostel
galt. Neben der Leitung der Gemeinde war die Aufgabe des Bischofs die
Verkündigung der Botschaft Jesu Christi. Die Nachfolger der eigentlichen
Apostel Jesu, also die späteren Bischöfe, hatten somit auch die Aufgabe, die
„rechte Lehre“ zu bewahren. Die heutige Stufung der verschiedenen Weihen
vom Diakon über den Priester bis zum Bischof war dagegen nicht immer so wie
derzeit. So waren in den ersten Jahrhunderten zuweilen die Presbyter Berater
der Bischöfe, noch im 3. Jahrhundert übernahmen auch Diakone diese Aufgabe,
die zugleich noch Verwalter des Kirchenvermögens waren. So galten seinerzeit
die Diakone als bedeutender als die Presbyter, die ihren Dienst ehrenamtlich
ausübten und sich aus den eigenen Einkünften oder eigenem Vermögen
versorgten, wogegen Bischöfe und Diakone aus der Kirchenkasse bezahlt wurden.
Mit der Übernahme von Taufen und dem Kult (also Gottesdienst) steigerten die
Presbyter ihr Ansehen und ihre Bedeutung.
Ursprünglich war auch die Wahl des Bischofs Angelegenheit des Volkes. Später
übernahmen die Presbyter und die jeweiligen Nachbarbischöfe diese Aufgabe.
So entwickelte sich langsam die Trennung zwischen Klerikern (also „Geistlichen“,
die Anteil haben am Amt und der Macht der Kirche) und Laien (von laios, das
Volk)
[4]
. Erstmals taucht die Unterscheidung von Klerus und Laien um 90 n.
Chr. in Rom auf.
Mit der Festigung der Gemeinschaft waren zusehends auch Abgrenzungen vom
Judentum, vom römischen Staat und von Häresien (also „Irrlehren“)
notwendig.
Lange Zeit blieb die Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus glaubten, eine
jüdische Gruppierung. So wurden die Christen auch lange Zeit verstanden. Die
Botschaft Jesu, der ja selbst Jude war, richtete sich ursprünglich wohl auch
an die Juden bzw. die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (vgl. dazu Mt
15, 21 – 28). Auch Paulus und Petrus und andere Apostel richteten ihre „Missionierung“
ursprünglich an Juden. Erst mit den späteren Aktivitäten des Paulus weitete
sich der Kreis der Adressaten der Frohbotschaft auch hin zu den sogenannten
„Heiden“, manchmal auch „Hellenisten“ genannt. Nach heftigen
Diskussionen wurde dann auch beschlossen, dass die Heiden, die sich zur
Gemeinschaft bekannten und die Taufe wünschten, nicht erst
jüdisch werden mussten, sich also beschneiden mussten (vgl. Apg 15, 1-
21).
Die Abgrenzung von den Juden ereignete sich, weil klar wurde, dass viele
Anhänger des jüdischen Glaubens nicht daran glauben konnten, dass Jesus der
Messias (oder griechisch Christus) sein sollte. Nach anfänglich gegenseitigen
Verfolgungen und Unstimmigkeiten wurde mit dem Datum des Krieges zwischen
Juden Palästinas und Rom (66 bis 70), an dem sich die Christen nicht
beteiligten, die Abspaltung immer offensichtlicher.
Zum Verhältnis von Juden und Christen hat Paulus im Römerbrief in den
Kapiteln 9 bis 11 Grundlegendes geschrieben.
Das Verhältnis von Juden und Christen wurde insbesondere durch den Vorwurf
des „Gottesmordes“, der an die Adresse der Juden gerichtet wurde,
nachhaltig gestört. Dieser Vorwurf wurde in der Geschichte bis ins 20.
Jahrhundert immer wieder dazu missbraucht, Juden in Pogromen, bis hin zum
Holocaust, zu verfolgen.
Von Seiten des römischen Staates erfuhr das Christentum lange Zeit ein hohes
Maß an Toleranz. Die Christen zeigten sich dabei auch als durchaus
obrigkeitsfreundlich. Die Christen verstanden sich nicht als „Kontrastgesellschaft“
zum römischen Staat. Im Gegenteil: Sie beten gar für die Obrigkeit und waren
wohl eher „bürgerlich“ orientiert. Im Römerbrief (Röm 13, 1-7) vertritt
Paulus eine geradezu staatsfreundliche Meinung. Seiner Ansicht nach solle sich
jeder der staatlichen Gewalt unterordnen, weil es „keine Autorität (gibt),
die nicht von Gott verliehen wird“ (Röm 13, 1b).
Erst mit Nero und dessen Vorwurf, die Christen hätten Rom angezündet,
erfolgte die erste systematische Christenverfolgung.
Bis zur „konstantinischen Wende“ im Jahre 313, als Konstantin der
Große und Licinius dem Christentum gegenüber volle Toleranz zusicherten
(Mailänder Toleranzedikt) gab es allerdings immer wieder
Christenverfolgungen, bei denen wohl mehrere tausend Christen als Märtyrer
ihre Überzeugung und die Verweigerung des Kaiserkultes und des Opfers für
römische Götter mit dem Tod bezahlen mussten (solche Christenverfolgungen
gab es zum Beispiel unter Decius, Gallus und Valerian von 250 bis etwa 260 und
unter Diokletian und Valerius ab dem Jahre 303 bis 311).
Neben den Abgrenzungen gegenüber dem Judentum und den immer wieder
aufflammenden Verfolgungen der Christen durch die römische Staatsgewalt
musste sich die frühe Kirche eigentlich von Anbeginn an mit sogenannten „Häresien“
also Irrlehren auseinandersetzen. So wurden vor allem Einflüsse der „Gnosis“
(wörtlich übersetzt Wissen oder Erkenntnis) immer wieder für die noch junge
Kirche bedrohlich. Die Gnosis mit ihren verschiedenen Variationen vertrat
einen strengen Dualismus zwischen Licht und Finsternis. Die Welt wurde als
Gefängnis für das himmlische Licht verstanden. So zeichnete sich die Gnosis
durch einen radikalen Pessimismus mit einem ausgeprägten Auftrag zur
Weltflucht aus.
Später wurden die Auseinandersetzungen um den rechten Glauben auf Konzilien
gelöst.
[1] Die Handauflegung und das Gebet sind noch heute Symbole bzw. Weihehandlungen bei Diakonen-, Priester- oder Bischofsweihe. Die katholische Kirche beansprucht dabei – wie übrigens auch andere Kirchen – die „apostolische Sukzession“, d. h., dass die Übertragung des Amts sich bis auf die Apostel zurückführen lassen soll.
[2] Unter Charismen oder „Geistesgaben“ oder „Gnadengaben“ versteht Lukas, von dem die Apostelgeschichte stammt, besondere, ungewöhnliche Fähigkeiten.
[3] Im Anschluss daran entwickelt Paulus übrigens seine Idee von der Liebe, die alles durchdringen sollte. Diese Perikope wird häufig auch als das „Hohelied der Liebe“ bezeichnet (1 Kor 13).
[4] Heute werden Bischöfe nicht mehr vom Volk gewählt. Sie werden entweder vom Papst bestimmt oder aus einer Vorschlagsliste vom Domkapitel (der Versammlung der an der Bischofskirche tätigen Geistlichen) gewählt. Diese Regelung gilt auch für die Diözese Rottenburg-Stuttgart.