Kirche in der Gesellschaft - das "Wächteramt" der Kirche
Die formelle Trennung von Kirche und Staat in der
Bundesrepublik Deutschland eröffnet den Kirchen die Chance, dass sie sich immer
wieder in gesellschaftspolitische Diskussionen einbringen. Diese "kritische
Wächterfunktion" wird zuweilen sogar von den Kirchen gefordert, zumindest
aber erwartet. Es gibt viele Felder, in denen die Kirchen mit einem expliziten
Auftrag sich zu Wort melden können. Klassische Beispiele sind etwa der Schutz
des Lebens, wobei insbesondere Anfang und Ende des Lebens als besondere
"Krisenzeiten" gesehen werden müssen. Die Position der katholischen
Kirche ist dabei eindeutig: Menschliches Leben ist heilig und steht weder an
seinem Anfang noch an seinem Ende zur Disposition.
In der Abtreibungsdiskussion hat insbesondere die katholische Kirche nie ein
Hehl daraus gemacht, dass sie mit der derzeitig gültigen Regelung der
straffreien Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche (sogenannte Fristenlösung)
nach einer eingehenden Beratung, die mit einer entsprechenden Bescheinigung
nachgewiesen wird, grundsätzlich nicht einverstanden ist. Die
Abtreibungsdiskussion (§ 218 bzw 219 Strafgesetzbuch) hat schon seit
Jahrzehnten kirchliche Stellungnahmen provoziert. Nach der sogenannten Indikationenlösung,
die von der katholischen Kirche nur im Fall einer medizinischen Indikation (wenn
also das Leben der Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet war) akzeptiert
wurde (abgelehnt wurden die soziale (wenn eine drohende Notlage festzustellen
ist), eugenische (wenn Erbschäden beim Kind zu befürchten sind) und ethische
(Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung) Indikation). Diese Regelung galt
seit Mitte der 70-er Jahre bis zum 21. August 1995, als die oben geschilderte
Abtreibungsregelung (Fristenlösung) per Gesetz eingeführt wurde. Für die
Kirchen war immer klar, dass mit einer Abtreibung menschliches Leben getötet
wird, weil das Leben eben nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern mit der
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Aufsehen erregte die Diskussion um die
Ausstellung von Beratungsscheinen durch katholische Beratungsstellen (etwa der
Caritas). Diese ist seit einigen Jahren nicht mehr möglich, weil von Seiten des
Papstes argumentiert wurde, dass die Ausstellung von Beratungsscheinen, die als
Voraussetzung für einen Schwangerschaftsabbruch vorgeschrieben sind, kirchliche
Beratungsstellen Mitverantwortung an der Tötung menschlichen Lebens
übernehmen. Dabei ging die Diskussion immer darum, wie auch kirchliche
Beratungsstellen möglichst viele Frauen dahingehend beraten können, dass die
Kinder zur Welt kommen können.
Unabhängig davon, wie man diese Frage beurteilt, ist sicher, dass die Kirche
mit dieser entschiedenen Haltung deutlich Position für den Schutz des Lebens
bezogen hat.
Jährlich wird von der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland im
Mai die "Woche für das Leben" organisiert. In dieser "Woche für
das Leben" werden gesellschaftspolitische Themen beleuchtet. So war
selbstverständlich wiederholt die Frage der Abtreibung, aber auch die
Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik schon einmal zentrales Thema.
Vermehrt werden in den letzten Jahren aber auch Fragen der Gentechnik und
Biomedizin diskutiert. Zudem spielt das Thema Sterben und Tod eine große Rolle
in den Veranstaltungen. So etwa auch in diesem Jahr 2004. Dabei setzen sich die
Kirchen für ein Sterben in Würde ein. Ein zentraler Diskussionspunkt ist die Frage
der aktiven Sterbehilfe. Damit ist gemeint, dass die Befürworter der
"aktiven Sterbehilfe" sich dafür einsetzen, dass - nach
Willensbekundung des Betroffenen - dem Leben aktiv (etwa per Todesspritze) ein
Ende gesetzt werden kann. Die Kirchen lehnen dieses Ansinnen rundweg ab. Unter
bestimmten und streng geregelten Voraussetzungen ist aktive Sterbehilfe
allerdings in den Niederlanden und in Belgien schon gesetzlich erlaubt. Dennoch
bleiben die Kirchen bei ihrer Überzeugung, dass der Mensch kein
Verfügungsrecht über das letztlich von Gott geschenkte Leben hat. "Passive
Sterbehilfe", also der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen,
wenn keinerlei Aussicht auf Besserung des Zustands zu erwarten ist, wird dagegen
in eng gefassten Grenzen toleriert. Die Kirchen setzen sich im Zusammenhang mit
dem Lebensende insbesondere dafür ein, dass Menschen in Würde sterben können.
Das bedeutet, dass sie bei entsprechend schweren Krankheiten mit starken
Schmerzen medizinisch so betreut werden, dass sie die Schmerzen ertragen können
(die sogenannte "Palliativmedizin" ist eine moderne Form der
Schmerztherapie, die Linderung statt künstlicher Lebensverlängerung in den
Mittelpunkt stellt). Zudem sollen sterbenskranke Menschen begleitet und betreut
werden, damit sie beim Sterben nicht alleine gelassen werden. Diesem Anliegen
widmen sich insbesondere die sogenannten Hospizbewegungen.
Immer stärker tritt die Diskussion um Gentechnik
(insbesondere in Bezug auf Humangenetik) und Biomedizin in den Mittelpunkt
ethischer Überlegungen, bei denen sich die Kirchen massiv und eindeutig zu Wort
melden. Tatsächlich erwarten die Menschen in diesen sehr differenzierten Fragen
Orientierung in ethischer Hinsicht von den Kirchen. Dabei ist sich die Kirche
sehr wohl bewusst, dass humangenetische und biomedizinische Entwicklungen
durchaus auch zum Wohl der Menschen dienen können. Es gilt allerdings
mindestens so sehr, deren Missbrauch zu verhindern.
"Die Kirche geht davon aus, dass der biblische Schöpfungs- und
Kulturauftrag: Macht euch die Erde untertan (Gen 1,28), bebaut und bewahrt sie
(Gen 2,15) auch für die Bewertung der heutigen Eingriffsmöglichkeiten des
Menschen gilt. Die Natur ist nicht unantastbar, sie kann und soll vom Menschen
gestaltet werden.. Sonst stünde ja der Mensch der Natur völlig
handlungsunfähig gegenüber. Es ist ein Kennzeichen des Menschen als
Kulturwesen, dass er die Schöpfung mitgestaltet, sie durch Vernunftgebrauch
formt und verantwortlich nutzt." (Der Mensch: sein eigener Schöpfer?
Wort der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin (im
Folgenden DBK 2001 genannt), 7. März 2001, Seite 3). Nach der Überzeugung,
dass Gott den Menschen als sein Ebenbild erschaffen hat (Gottebenbildlichkeit)
ist das Leben mehr als eine beliebige biologische Tatsache. Menschliches Leben
ist heilig und der Verfügbarkeit des Menschen entzogen. Der Mensch existiert so
nicht in absoluter Autonomie (Selbstbestimmung), sondern lebt innerhalb von
Grenzen, die er nicht überschreiten darf. Die in der Gottebenbildlichkeit
gründende Würde des Menschen bedeutet, dass er "im Voraus zu all seinen
Leistungen, zu all seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten von Gott bedingungslos
geliebt und bejaht wird" (DBK 2001, Seite 4). Damit ist die Würde des
Menschen unantastbar und gilt für Gesunde und Kranke, Behinderte und Sterbende,
Geborene und Ungeborene. Nach christlicher Überzeugung eröffnet Leben, Tod und
Auferstehung Jesu Christi noch eine vertieftere Sicht auf das Leben der
Menschen. Mit dem Glauben an die Auferstehung sind Krankheit und Behinderung,
Leiden und Sterben bei allem Schmerz kein sinnloses Schicksal, "sondern
können als Teil unseres Lebens erfahren und angenommen werden" (DBK 2001,
S. 4).
Eine konkrete Betrachtungsweise in gentechnischen Fragestellungen hat neben
dieser allgemein gültigen Voraussetzung Ziele, Mittel und Folgen
gentechnischen Handelns zu berücksichtigen.
Im Folgenden werden zu einigen Fragen im Zusammenhang mit der Gentechnik
wenigstens Andeutungen gemacht. So ermöglichen Gentests (manchmal auch
als Genomanalyse bezeichnet) mittlerweile die Diagnose von vielen Erbkrankheiten
oder deren bei Menschen vorhandenen Veranlagung. In diesem Zusammenhang muss
bedacht werden, dass bisher nur die wenigsten Erbkrankheiten tatsächlich
geheilt werden können. Eine Diagnose kann also zu ungeahnten Verunsicherungen
führen. Hierbei gilt, dass der Mensch auch das "Recht auf
Nichtwissen" hat und dass genetische Daten strengstens zu schützen sind,
damit sie nicht von Unbefugten genutzt werden können. Insbesondere bei der pränatalen
Diagnostik, also der vorgeburtlichen Diagnostik, finden Gentests Anwendung.
Damit einher geht, dass bei einer festgestellten Diagnose einer möglichen
Erkrankung oder Behinderung oftmals die Abtreibung des embryonalen Menschen die
Folge ist. Gentests finden auch bei der Präimplantationsdiagnostik (PID)
Anwendung, wenn also ein im Reagenzglas erzeugter Embryo auf seine mögliche
erbliche Belastung hin untersucht wird. Sollte eine erbliche Belastung
festzustellen sind, wird dieser Embryo nicht in die Gebärmutter der Frau
übertragen, sondern vernichtet. Somit ist diese Form der Diagnostik immer auf
Selektion ausgerichtet und damit ethisch nicht zu verantworten. Noch ist die PID
in Deutschland gesetzlich verboten. Die Deutsche Bischofskonferenz lehnt in
ihrer Stellungsnahme auch ab, dass voraussagende Gentests (sogenannte
prädikative Tests) an Arbeitnehmern oder Versicherungswilligen vorgenommen
werden, weil diese immer interessengeleitet sind.
Im Zusammenhang mit der Gentherapie ist die somatische Gentherapie, wenn
also ein möglicher Heilungserfolg nur die behandelnde Person betrifft dann
ethisch vertretbar, wenn die Methode sicher ist, die Verhältnismäßigkeit
gewahrt wird und der Patient nach Aufklärung frei zustimmt.
Eine Keimbahntherapie, die direkt an den Keimzellen (Ei- und Samenzellen oder an
der befruchteten Eizelle) vorgenommen wird, um vererbbare Gendefekte auch bei
Nachkommen der betroffenen Person zu vermeiden, "verbietet sich aus drei
Gründen: Erstens ist die gegenwärtige Methode noch nicht ausgereift (...).
Zweitens wird die weitere Entwicklung verbrauchende Embryonenforschung
notwendig. Drittens besteht die Gefahr des Missbrauchs zur Menschenzüchtung
(...). (DBK 2001, S. 7)
Das sogenannte therapeutische Klonen, das dazu dienen soll, dass Menschen
im Krankheitsfall geheilt werden können, wird abgelehnt, weil hierfür
menschliche Embryonen hergestellt werden müssen, die dann allerdings nur als
"Ersatzteillager" dienen. Selbst wenn diese Form des Klonens noch
medizinisch nützlich sein könnte, wird das therapeutische Klonen wegen des
Verfahrens abgelehnt, bei dem eben die unantastbare Würde menschlichen Lebens
(der Embryonen) in Frage gestellt wird. Dagegen sind die Forschungen, bei denen
die Gewinnung von Stammzellen aus dem Körper des erwachsenen Menschen (adulte
Stammzellen) möglich wird, ethisch durchaus zu rechtfertigen.
In Bezug auf die Herstellung von Arzneimitteln mittels gentechnischer
Möglichkeiten stellt die Deutsche Bischofskonferenz fest: "Im Hinblick auf
den ethisch gebotenen Gesundheitsschutz wäre es unverantwortlich, auf die durch
die Gentechnik eröffneten neuen Möglichkeiten der Herstellung von
Arzneimitteln zu verzichten." (DBK 2001, Seite 8)
Zusammenfassend warnt die Deutsche Bischofskonferenz vor einer
Machbarkeitseuphorie bezüglich des Potenzials der Gentechnik ebenso wie vor
einer völligen Ablehnung derselben. Die Würde des Menschen, dessen
Selbstbestimmungsrecht und Persönlichkeitsrechte, sowie das Grundrecht auf
Leben und körperliche Unversehrtheit müssten, so die Bischöfe zu einer
"Kultur des Lebens" führen. Zugleich warnen die Bischöfe vor
Machbarkeits- und Erlösungsphantasien, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
und technischen Errungenschaften einhergehen. "Glaube und Vernunft",
so wird ein Wort Johannes Paul II zitiert, "sind die Flügel der
praktischen Weisheit".
Neben dem weiten Feld (so hätte es der Vater von Effi Briest genannt!) der Gentechnik nimmt die Kirche aber auch in vielfältigen anderen Bereichen des Lebens Stellung, wobei auch hier gilt, dass Glaube und Vernunft die Flügel der praktischen Weisheit sind. So bringen sich die Kirchen ein, wenn es um den Schutz des Sonntags geht, wenn die Rechte der Arbeitnehmer in Frage gestellt werden, wenn die weltweite Solidarität, auch mit den Menschen in den Entwicklungsländern gefordert ist, oder wenn einmal mehr Krieg als legitimes Mittel der Politik gesehen wird und immer unendliches Leid für die betroffenen Menschen bedeutet (so zuletzt auch Papst Johannes Paul II, der eindringlich vor dem Irakkrieg warnte und die kriegswilligen Nationen aufrief, keinen Krieg zu beginnen).
Quelle: Der Mensch: sein eigener Schöpfer? - Wort der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin, Augsburg, 7. März 2001