Die Situation im 21. Jahrhundert. -
Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage und Formen
neuer Religiosität als Herausforderungen
Stichworte: kath. Milieu, Atheismus (theoretisch, praktisch, methodisch), Synkretismus, Autonomie,
- Es gibt praktisch kein „katholisches
Milieu“ mehr (Begleitung des Menschen in einem katholisch geprägten
Lebensumfeld von der Wiege bis zur Bahre). Die Bedeutung konfessioneller Prägung
wird an den Rand gedrängt, die Lebensrelevanz Gottes wird gegenüber früher
deutlich relativiert. Die Erfahrung der Unmittelbarkeit göttlicher
Begleitung wird zusehends in Frage gestellt. Die religiöse Dimension schwindet
allenthalben (man spricht von der "Verdunstung des Glaubens"). Die
Selbstverständlichkeit des Glaubens wandelt sich zu einer bewussten
Entscheidung, das Leben nach religiösen oder christlichen Überzeugungen
auszurichten oder auf diese bisweilen gar ganz zu verzichten (diese Erscheinung
gibt es in vielen, vielleicht gar allen Religionen). Zugleich entwickelt sich in
diesem Vakuum ein religiöser Fundamentalismus, der nicht selten fanatische und
ideologische Züge trägt. Dennoch bleibt es eine kulturgeschichtliche
Erfahrung, dass der Mensch, wie es Paul Tillich einmal formulierte
"unheilbar religiös" ist.
- Noch glauben circa 2/3 der Deutschen an Gott. Ein personales Gottesverhältnis
haben allerdings deutlich weniger Menschen. Ein christlich oder gar katholisch
geprägtes Gottesbild nochmals deutlich weniger. Das so genannte
"Glaubenswissen" (früher Katechismus-Wissen), also die Kenntnis von Glaubensinhalten, wie Dogmen
oder biblische Kenntnisse, nimmt ab.
- Der „theoretische Atheismus“ spielt in unserer Zeit eine relativ
unbedeutende Rolle (dieser wurde im Wesentlichen von Ludwig Feuerbach,
Sigmund Freud, Jean-Paul Sartre geführt). Weit verbreitet ist dagegen der so
genannte „praktische
Atheismus“, also die Situation, dass Menschen leben, als ob es Gott nicht
gäbe. Der „methodische Atheismus“ der Naturwissenschaften, die ihre
Forschung betreiben ohne das Phänomen Gott zu berücksichtigen, ist anerkannt
und entspricht dem Selbstverständnis der Naturwissenschaften und ist von daher
methodologisch logisch. Die Phase der Wissenschaftsgläubigkeit, also die Überzeugung,
dass es den Naturwissenschaften gelingen möge, die Welt zu erklären und die
Grundfragen des Menschen (woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich, warum
bin ich überhaupt, was ist der Sinn des Lebens) zu beantworten, scheint dagegen
schon fast wieder überwunden zu sein, wenngleich die zunehmende Bedeutung der
Naturwissenschaften ernsthafte und berechtigte Fragen an die überlieferten
Gottesvorstellungen richtet. Diesen Herausforderungen kann sich die Theologie
nicht entziehen.
- Geradezu weit verbreitet ist der "Agnostizismus" (gr. a-gnosis, was so
viel wie Nicht-Wissen bedeutet), also die Haltung, keine
Aussagen über Gott zu machen, weil diese nicht „beweisbar“ sind. Agnostiker
kümmern sich also gar nicht um die Frage, ob es Gott gibt oder nicht gibt.
- Nachdem sich auch das Christentum auf dem „Markt der religiösen
Sinnangebote“ (Pluralismus der Sinnangebote) zu behaupten hat, entwickelt sich
ein zunehmender "Synkretismus", also eine Vermischung
unterschiedlich geprägter Religionsvorstellungen und somit auch Gottesbilder. Diese
Individualisierung und Pluralisierung des Gottesglaubens wird oftmals auch als „Patchwork-Religiosität“
bezeichnet. Dabei entwickelt sich häufig eine säkulare (verweltlichte) und sehr subjektiv geprägte Form von Religiosität.
Menschen stellen aus verschiedenen Religionen und Philosophien (=Pluralisierung), vielfach auch
mit esoterischen Versatzstücken angereichert, sich selbst eine ganz
individuelle Religion (=Individualisierung) zusammen. Sie "basteln" sich quasi ihre eigene
Religion. Ein Beispiel
hierfür ist, dass nicht wenige Menschen, die sich als christlich bezeichnen,
die Möglichkeit der Wiedergeburt annehmen. Eine "Reinkarnation" (wie sie etwa der
Hinduismus kennt) ist allerdings
mit christlichen Vorstellungen nicht zu vereinen, da das biblische Menschenbild
die Einmaligkeit der Person kennt. Individualisierung und Pluralisierung der
Gottesbilder sind logische Konsequenzen dieser Entwicklung. Religion wird so zum
Produkt der freien Entscheidung, in der der Mensch sich für oder gegen
bestimmte Inhalte und Formen der Religiosität entscheidet. Umfragen bestätigen
diese Erscheinung. Die Bindung an eine Religion oder Konfession wird dadurch
naturgemäß schwächer.
- Vielfach ist zu beobachten, dass sich (nicht nur) Jugendliche zudem andere
„Heiligtümer“ oder "Götzen" (Götzen sind falsche Götter,
Ersatzgottheiten, Abgötter oder Bilder von Göttern) schaffen, an die sie sich binden (Pop-Stars, Autos,
Reichtum, Schönheit, Sexualität, Macht, wirtschaftlicher und materieller
Erfolg, Musik, Sport). In einer gesellschaftlichen Analyse und Beschreibung der
Gesellschaft wird diese Entwicklung häufig als Materialismus und Konsumismus
(Sucht nach ständigem Konsum) beschrieben. Für die Frage nach dem Sinn des
Lebens geben materialistische und konsumistische Tendenzen allerdings nur sehr
kurzfristige Hilfestellungen.
- Die Autonomiebestrebungen des Menschen, also die Entwicklung, selbst
gestaltendes und normgebendes Element für sich zu sein, drängen die Bedeutung
aller Institutionen (Staat, Gesetze, Verbände, auch Kirchen und Religion) zurück.
Die berechtigte Sehnsucht des Menschen nach Selbstverwirklichung hat nicht
selten die Loslösung von allen Bindungen zur Folge. Die Gefahr dabei ist
allerdings die oftmals beklagte Bindungsunfähigkeit der Menschen und die damit
einhergehende Orientierungslosigkeit. Die Schutzfunktion, die selbstverständlich
gelebte gemeinsame Überzeugungen, auch der gemeinsame Glaube, für die Menschen
mit sich bringt, entfällt.
Günter Brutscher